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Monat: Juli 2010

Die Verratenen. Eine Anklage in drei Thesen

„Studenten haben in jedem Jahrzehnt einmal gestreikt“, sagte die Frau und lächelte übertrieben breit in die Fernsehkameras. Sie sprach es so aus, als gewöhne man sich daran. So als redete sie von lästigen Eintagsfliegen, die summend um die Köpfe kreisten, allen auf die Nerven gingen, doch glücklicherweise in absehbarer Zeit den sicheren Tod finden würden.
Wie selbstverständlich gingen ihr die Worte von den Lippen. Sie dachte sich anscheinend nicht viel dabei, überspielte es mit ihrer gekünstelten Freundlichkeit, wie sie es immer tat. Doch für jeden, der sich davon nicht in die Irre führen ließ, waren diese Sätze demaskierend. Gesprochen wurden sie Ende November 2009 von Annette Schavan, der amtierenden Bundesbildungsministerin. Die Worte legten die Überheblichkeit und Ignoranz offen, mit der deutsche Politiker der heutigen Jugend entgegentreten. Seit Jahren können wir es beobachten: Junge Menschen werden in unserem Land nicht ernst genommen – selbst wenn der Versuch unternommen wird, in Form von Protesten auf bildungspolitische Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen. Bevor sich Ideen und Kreativität entfalten können, werden sie im Keim erstickt. Wirkliche Persönlichkeiten werden immer seltener, weil es wichtiger ist zu funktionieren als selbstständig zu denken. Menschen verlieren ihre Menschlichkeit, werden stattdessen zu Kunden, Dienstanbietern oder schlimmstenfalls selbst zur Ware. Die Jugend scheint größtenteils bereits kapituliert zu haben. Sie hat sich mit den neuen Umständen abgefunden und passt sich fleißig an. Mit Schrecken können wir feststellen, wie diese Entwicklung kontinuierlich voranschreitet. Wir erleben in Deutschland gerade eine Erziehung zur Konformität, was letztendlich nichts anderes bedeutet als eine Erziehung zur Unmündigkeit. Was wir durch die Aufklärung einst dazugewonnen haben, verlieren wir nun wieder.

Dieser Artikel ist eine Anklage. Die Anklage einer verratenen Generation, von der verlangt wird, dass sie sich stillschweigend in ein bestehendes System integriert, statt innovativ über eigene Pläne und Ziele nachzudenken. Einer Generation, die bei einem Fortschreiten der derzeitigen Entwicklungen künftig nicht in der Lage sein wird, soziale und politische Verantwortung in diesem Land zu übernehmen.
Gleichzeitig ist dieser Artikel ein Aufschrei. Der verzweifelte Aufschrei, der endlich die längst überfällige Grundsatzdebatte anstoßen soll, was wir eigentlich unter dem Begriff „Bildung“ in Deutschland verstehen. Die Kritik an den derzeitigen Verhältnissen darf dabei keinesfalls auf die Kritik am Studiensystem (Bachelor und Master) beschränkt bleiben, wie das nur allzu häufig in der Vergangenheit geschehen ist. Verlässt man nämlich das oberflächliche Pflaster der allgemein bekannten Bildungsdiskussionen und taucht tiefer in die Zustände ein, so ist es dort sehr, sehr finster.

Es mag sein, dass das alles im ersten Moment als schwarzmalerische Behauptung abgetan wird. Beklagen kann sich schließlich jeder. Doch ich weiß, wovon ich spreche, weil ich selbst Teil dieser betroffenen Generation bin. Als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen möchte ich drei Thesen ausführen. Jede davon ist eine Teilantwort auf die Frage, die ein Mensch stellt, der sich für den Erfolg von Bildungspolitik interessiert: Was haben wir – die junge Generation – eigentlich gelernt?

These 1: Wir haben gelernt, wie man beschleunigt, aber nicht, wie man bremst.

Spätestens seit den ersten miserablen PISA-Ergebnissen vor neun Jahren, verfolgt die deutsche Bildungspolitik ein höchst fragwürdiges Konzept, das langfristig angeblich zum Erfolg führen soll. Dabei geht es nicht etwa darum, dass man verstärkt auf individuelle Förderung setzt, mehr Lehrpersonal einstellt und die Größe der Lerngruppen verkleinert. Stattdessen scheint es darum zu gehen, den Druck auf Schüler und Studenten so lange zu erhöhen, bis diese gezwungen sind, aus eigener Kraft besser werden. Passende Mittel dazu sind eine erhöhte Prüfungsdichte, sowie eine faktische Verkürzung der Schul- und Studienzeit. Wie wenig solch ein Druck als Heilmittel taugt, weiß jeder, der erkannt hat, dass sich aus einer Orange nur bedingt mehr Saft herauspressen lässt, wenn man sie von außen stärker zusammendrückt. Was fehlt, ist der zusätzliche Saft und – um weiter beim Obstvergleich zu bleiben – eine längere Reifezeit, in der sich mehr Flüssigkeit im Fruchtfleisch ansammeln kann. Zudem steckt hinter der Überlegung, durch Druckausübung erreiche man mehr, ein stark eingeschränkter Bildungsbegriff. Demnach wäre Bildung das, was die Insassen einer Bildungsanstalt eingetrichtert bzw. aufgedrückt bekommen. Außer Acht gelassen wird in diesem Zusammenhang die reflexive Seite des Bildungsbegriffs, die davon ausgeht, dass ein solcher Prozess im Laufe der Persönlichkeitsentfaltung nicht nur von außen nach innen, sondern auch umgekehrt wirkt: Bildung wird auf diese Weise sowohl zu einem Aufnahme- als auch zu einem Weiterentwicklungsprozess. Was für weitreichende Folgen das hat, werde ich in der dritten These genauer darlegen.
Bleiben wir aber zunächst bei der Schnelligkeit, der man kaum entrinnt, wenn man als Schüler oder Student in das Bildungssystem einsteigt und nicht auf der Strecke bleiben will. Schon Zehnjährige bekommen den Druck einer verkürzten Schulzeit zu spüren, verzichten auf Freizeitbeschäftigungen fernab vom Schreibtisch und haben im Schnitt mehr Unterrichtsstunden pro Tag als Gleichaltrige vor zehn Jahren. Wenn alles glatt läuft, hat der Nachwuchs mit der erreichten Volljährigkeit das Abitur in der Tasche, begibt sich an eine Hochschule, schreibt sich für ein Fach seiner Wahl ein und macht nebenher Praktika. Schick wäre daneben selbstverständlich ein Auslandsaufenthalt. Hält er sich dann an die Regelstudienzeit (wer es in der vorgegebenen Zeit nicht schafft, bekommt leider die BAföG-Unterstützung gestrichen), so hat er im zarten Alter von 21 Jahren mit dem Bachelor bereits einen ersten berufsqualifizierenden Abschluss. Vielleicht hängt er noch zwei Jahre für einen Master dran, vielleicht lässt er es aber auch. Theoretisch kann er jetzt anfangen zu arbeiten. Nach Wunsch der Politik soll Letzteres in ein paar Jahren gängige Praxis sein, sobald von den Universitäten keine Diplomstudenten mehr nachrücken und die deutschen Unternehmen gezwungen sind, die momentan eher skeptisch betrachteten Bachelor-Absolventen einzustellen – aus Mangel an Alternativen. Von der Geburt bis zum Arbeitsmarkt vergeht die Zeit immer schneller: Der Kampf gegen unliebsame Langzeitstudenten trägt erste Früchte, ebenso wird durch straffere Studienstrukturen und -bedingungen die Zahl der Studienabbrecher weiter sinken. Vorbei die Zeiten, in denen der eine oder andere möglicherweise nach Lust und Laune drauf los studiert, Fächer ausprobiert und nebenbei andere Seiten des Lebens genossen hat. Im Mittelpunkt eines Studiums steht längst nicht mehr die Bildung eines Menschen, sondern sein Marktwert, den er mit Hilfe seiner Leistungen erhöhen kann. Die Reflexion über die Entwicklung der Persönlichkeit bleibt dabei zwangsläufig auf der Strecke. Angestachelt durch gesteigertes Tempo und Druck von vielen Seiten ihres Umfeldes, bleibt den Insassen der Bildungsanstalten kaum eine andere Möglichkeit als sich auf das eine vorgegebene Ziel zu konzentrieren: die eigene Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt, auf den sie schnellstmöglich strömen sollen. Dazu genügt es ihnen nicht gut zu sein. Sie wollen besser sein.

These 2: Wir glauben nur gewinnen zu können, wenn die anderen verlieren.

Es ist unbestritten, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben. Wir definieren uns über das, was wir schaffen; wir sind, was wir leisten. Vielen Menschen fällt es nicht schwer, in erster Linie die positiven Seiten daran zu sehen. Ist es denn nicht von Vorteil, wenn jeder dazu angespornt wird, seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenleben beizusteuern? Haben wir letztlich nicht all diesen motivierten Bürgern – mit ihrem Drang nach vorn zu kommen – den Fortschritt zu verdanken? Skepsis ist spätestens an dem Punkt angebracht, wenn der Begriff der Leistungsgesellschaft wichtiger wird als jener der Solidargemeinschaft; wenn Leistungsträger und Minderleister unterschieden werden; wenn von Anfang an nicht zusammen, sondern gegeneinander gearbeitet wird und feststeht, dass es irgendwann in der Einteilung von Gewinnern und Verlierern endet. Von eben diesen Überlegungen jedoch ist das deutsche Bildungssystem durchdrungen. Es sieht nicht vor, jungen Menschen beizubringen, wie sie gemeinsam etwas Großes auf die Beine stellen können. Stattdessen zeigt es ihnen immer wieder auf, dass sie sich durchsetzen müssen – gegen Klassenkameraden, Kommilitonen, Praktikumsbewerber und Arbeitnehmer. Konkurrenz ist die Grundlage des Systems und drängt Neugier, Interesse und Freude an Inhalten in den Hintergrund. Überhaupt wird die inhaltliche Ebene immer stärker ausgeklammert, da diese eine Hinwendung zur Qualität, nicht aber zur Quantität verlangen würde. Quantität aber ist unverzichtbar, will man den Konkurrenzdruck aufrecht erhalten und Menschen miteinander vergleichen. Es wird wichtiger, wie viel jemand leistet, als darauf zu achten, was das Gelernte für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutet. Nur so lässt sich erklären, dass es schon Bildungseinrichtungen für Dreijährige gibt, die Unterricht in Naturwissenschaften und Fremdsprachen erhalten. Eltern, die befürchten, ihr Kind könnte in ein paar Jahren im gnadenlosen Räderwerk der Leistungsgesellschaft auf der Strecke bleiben, zahlen bereitwillig hohe Geldbeträge, um ihren Jüngsten einen Bildungsvorsprung zu ermöglichen. Irgendwann sollen sie schließlich auf der Gewinnerseite stehen, indem sie dann mehr wissen als ihre Gleichaltrigen – zumindest auf dem Papier. Der Wert einer freien und glücklichen Kindheit außerhalb der Schule lässt sich ja leider nicht in Zahlen messen. Daher darf es einen auch nicht verwundern, wenn sich bei grundschulinternen Abstimmungen in Berlin die Eltern oft für die Vergabe von Zeugnisnoten aussprechen (obwohl die Berliner Gesetzeslage das nicht vorschreibt). Die frühzeitige Einordnung der Leistungen anhand von vergleichbaren Werten ist ausdrücklich erwünscht, weil es in Anbetracht der gesellschaftlichen Situation als überlebensnotwendig angesehen wird. Das mag sogar zutreffen, führt jedoch zu einer ständigen Reproduktion des Konkurrenzgedankens und verschlimmert nur die Ausgangslage für die Betroffenen im Bildungssystem. Das Solidaritätsprinzip geht daran endgültig zu Grunde. Die Unterteilung in „besser“ und „schlechter“ ist längst in den Köpfen verankert, wird von der Politik regelmäßig propagiert und verstärkt, und hat in erster Linie eine ausgrenzende Wirkung. Die Auswahlkriterien isolieren statt zu integrieren. Seit ein paar Jahren ist auch der Begriff der Elite wieder salonfähig, was nichts anderes bedeutet, als dass die Grenzen noch schärfer gezogen werden sollen. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass gerade Werte wie Verantwortungsbewusstsein, Innovation und zielgerichtetes Handeln – wie sie einer neuen Elite zugeschrieben bzw. angedichtet werden – nicht auf einen begrenzten Personenkreis beschränkt bleiben dürfen, sondern eigentlich die Grundlage unserer Gesellschaft und folgerichtig des gesamten Bildungssystems bilden sollten. Davon abgesehen, kann es erst gar nicht gelingen, einer abgespaltenen Gruppe das zu vermitteln, weil eine solche Abspaltung bereits eine Denkweise voraussetzt, in der Verantwortungsbewusstsein und der Blick für andere Teile der Gesellschaft weniger wichtig sind als das eigene Vorankommen. Der Irrglaube, ein Mensch könnte schneller laufen, wenn er nur das kräftigere seiner beiden Beine weiter trainiert und das langsamere amputiert, ist anscheinend weit verbreitet. Das Ergebnis ist ein erkranktes System, das seine Fehler auf allen Ebenen wiederholt. (Zyniker meinen, das sei wenigstens konsequent.) Begeben wir uns an die Universitäten, stoßen wir beispielsweise auch bei der Auswahl des Lehrpersonals auf rein quantitativ messbare Kriterien. Nicht nur Studenten sammeln inzwischen Punktzahlen in ihrem Bachelor-Studiengang – nein, die Professoren machen es ebenso und können mit jeder wissenschaftlichen Veröffentlichung den Stand eines persönlichen Punktekontos erhöhen. Das wiederum verbessert die Chancen, später eine der raren Professorenstellen zu ergattern. Die Anzahl der zu vergebenen Punkte richtet sich zu keinem Zeitpunkt nach der Innovation der Forschungsprojekte und fördert somit eine ungerechtfertigte, unkreative Publikationswut – normalerweise in englischer Sprache, weil es für deutsche Arbeiten kaum Punkte gibt. (Das ist im Übrigen keine satirische Überspitzung, sondern bittere Realität.) Wer mehr veröffentlicht hat als alle anderen, setzt sich am Ende durch. Der vielleicht einzig vernünftige Gedanke des Konkurrenzprinzips – dass sich letztlich die beste Idee durchsetzen soll – wird auf diese Weise ad absurdum geführt, weil es nur noch bedingt um die Qualität von Forschungsergebnissen geht. Daraus folgt ein weiteres Problem: Die Wissenschaft büßt ihre Freiheit ein. Wenn nämlich jemand, der forscht, zuerst darauf schaut, ob und wie ihm ein Projekt für die eigene Karriere nützt, trifft er seine Entscheidungen nicht mehr nach eigenen Interessen bzw. der empfundenen Dringlichkeit, sondern nach dem Ermessen derjenigen, die ihm einen Karriereaufstieg erst ermöglichen. Logischerweise handelt es sich dabei ausnahmslos um die Institutionen des Landes, die an den Geldhähnen sitzen. Wer heutzutage forscht, lernt rasch, welche Forschungsprojekte die besten Chancen haben, vom Staat (oder auch von der Wirtschaft) finanziert zu werden. Somit entwickelt sich in der Forschung ein subtil gesteuerter Mainstream, an den sich jeder anpasst, der auf die Gelder angewiesen ist. Eine ganze Menge kreativer Ideen ist höchstwahrscheinlich schon auf dem Weg ihrer Entstehung verendet, ohne jemals niedergeschrieben worden zu sein, weil zu befürchten war, die nötigen finanziellen Mittel würden nicht genehmigt. Wenn aber Menschen ihre Offenheit und Neugierde auf Kosten nicht eigenständig festgelegter Kriterien einschränken, wenn sie sich an eine Skala anpassen, auf der abzulesen ist, ob sie zu den Gewinnern oder zu den Verlieren der Gesellschaft gehören – inwiefern können wir es da noch wagen, die Worte Bildung und Freiheit in einem Atemzug nennen?

These 3: Wir wissen, wer wir sein sollen, aber nicht, wer wir sind.

Wer über Bildungsbegriffe spricht, kommt früher oder später auf das humboldtsche Ideal zu sprechen. Demnach wäre Bildung „die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“. Das klingt schön, hat mit der Realität aber so viel zu tun wie eine Milchkuh mit einer Seekuh: Der Grundbegriff, von dem man ausgeht, ist derselbe, das Umfeld jedoch ein völlig anderes – und das bestimmt nun mal den Inhalt. Persönliche Entfaltung im deutschen Bildungssystem ist nur innerhalb der oben erwähnten Grenzen möglich. Zu oft hat das zur Folge, dass die Insassen der Bildungsanstalten den – auf den ersten Blick – bequemsten Weg einschlagen: Statt sich zu entfalten, lassen sie sich lieber zusammenfalten. Wo bleibt aber der Mensch, wo bleiben seine individuellen Fähigkeiten, wenn er meint, er müsse sich festen, vorgegebenen Richtungsanweisungen fügen? Kann es die Aufgabe eines aufgeklärten Bildungssystems sein, Menschen in Formen zu pressen und ihnen einen Stempel aufzudrücken, der sie lebenslänglich kennzeichnet? Oder sollte es nicht viel eher Aufgabe der Bildung sein, jungen Menschen das Handwerkszeug mitzugeben, das es ihnen ermöglicht, die richtigen Formen für die eigenen Veranlagungen zu finden und letztlich selbst der Umwelt einen Stempel aufzudrücken? Damit wären wir – wie in der ersten These bereits angeschnitten – bei der reflexiven Verwendung des Bildungsbegriffs angelangt. Hinter dieser Auslegung verbirgt sich ein Gedanke, der mit der Aufklärung eigentlich selbstverständlich geworden sein sollte. Gehen wir nämlich davon aus, dass es in einer Demokratie die Aufgabe des Bildungssystems ist, mündige Bürger heranzuziehen, so genügt es nicht, Inhalte in Form von Wissen und Wertevorstellungen vorzugeben und Menschen zu veranlassen, diese zu schlucken. Stattdessen muss den Menschen eine weitaus aktivere Rolle zufallen; denn Unmündigkeit resultiert aus Passivität. Erst wenn der Einzelne das, was an Bildungsinhalten vermittelt wird, im Reflexionsprozess weiterdenkt und auf diese Weise eine stabile Persönlichkeit aufbaut, kann das hoch angesetzte Ziel – die Erziehung zur Mündigkeit – erreicht werden. Das klingt jetzt wahrscheinlich zu abstrakt, deshalb werde ich einen griffigeren Vergleich anführen: Nehmen wir einen jungen Menschen, der eine Reihe von Fotos gezeigt bekommt. Auf jedem davon ist das Idealbild einer Person zu sehen, von der es jeweils heißt, es sei erstrebenswert, ihr nachzueifern. Der junge Mensch nimmt sich den Rat zu Herzen und arbeitet in den kommenden Monaten und Jahren daran, das zu erreichen, was er auf dem Foto sah. Seine Hauptmotivation ist dabei die Angst, er könnte am Leben scheitern, wenn er sich nicht nach den vorgegebenen Bildern richtete. Zumindest suggeriert ihm das sein Umfeld. Prinzipiell könnten die angeblichen Idealbilder eine sinnvolle Leitlinie darstellen, fehlte dem jungen Menschen nicht ein wichtiges Utensil: ein Spiegel, in dem er sich selbst betrachten kann. Hätte er einen solchen, würde er erkennen, was für Eigenschaften er mitbringt, die er möglicherweise mit den Idealbildern gemeinsam hat, aber eben auch, welche ihn davon unterscheiden – zuletzt würde er sie sogar hinterfragen. Somit könnten ihm die vorgelegten Fotos zwar weiterhin als Orientierung dienen, würden jedoch keine Kopie von ihm abverlangen, da er im wahrsten Sinne des Wortes selbstbewusster mit sich und seiner Umwelt verführe, nachdem er einen Blick in den Spiegel geworfen hätte. Außerdem würde er ohne Spiegel auch an den Versuchen einer Kopie scheitern. Grundmuster übernähme er mit Sicherheit, das wirkte jedoch kaum überzeugend.
Bildung darf sich also nicht auf die Aufnahme und Umsetzung vorgegebener Ideen und Bilder beschränken. Vielmehr muss jedes erlangte Wissen mit dem jeweiligen Status quo einer Persönlichkeit in Verbindung gebracht und reflektiert werden. Nur das gewährleistet die freie Entfaltung eines Menschen; nur so wird sichergestellt, dass ein Mensch irgendwann stabil im Leben steht, sich eigenständig Ziele setzen und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen kann.
Fest steht: Das deutsche Bildungssystem ist nicht darauf ausgerichtet und wendet sich immer mehr vom reflexiven Bildungsverständnis ab. Deutlich wird das nicht zuletzt in den Diskussionen um den Bachelor an den Universitäten. Der neue Bildungsabschluss soll explizit den Kompetenzerwerb über die Wissensvermittlung stellen. Es soll demnach nicht mehr darum gehen, Menschen universell zu bilden bis sie soweit sind, selbst ihren Standpunkt in der Welt und darauf aufbauend ihre weiteren Ziele zu bestimmen. Stattdessen wird der Fokus vom Menschen weg auf den Arbeitsmarkt gelenkt. Für diesen müssen gewisse „Kompetenzen“ erworben werden. Der Unterschied zwischen „Bildung“ und „Ausbildung“ wird in naher Zukunft nur noch an der Schreibweise, nicht mehr am Inhalt festzumachen sein. Nun kann man behaupten, das sei nicht weiter schlimm und die Vorgänge würden doch dafür sorgen, dass vieles im Land reibungsloser verläuft, wenn vorher feststeht, wohin die Kompetenzvermittlung führt, anstatt bloß der diffusen Wissensvermittlung ausgesetzt zu sein. Für den Arbeitsmarkt scheint es in der Tat beinahe egal, ob die Akteure ihre Ziele selbst bestimmen oder ob sie diese vorgegeben bekommen – er wird weiter funktionieren, dank der Reformen vielleicht sogar ein Stück effizienter. Aus Sicht der Gesellschaft ist diese Entwicklung dauerhaft aber nicht tragbar. Sie führt uns geradewegs in ein Desaster.

Das Fazit aus den dargelegten Thesen ist niederschmetternd: Wir können davon ausgehen, dass das Tempo im Bildungsbetrieb immer weiter steigen wird, die Involvierten permanent unter Druck setzt und wir in naher Zukunft einen Kollaps erleben werden, sobald das Motto hinter den Verhältnissen – „Immer schneller, immer höher“ – an seine natürlichen Grenzen stößt. Ein solcher Kollaps wird sich nicht in Totalausfällen äußern, sondern in einem rapiden Abbau des sozialen Zusammenhalts in der Gesellschaft und der endgültigen Fokussierung auf egoistisch motiviertes Handeln, da sich im Alleingang (zumindest einzelner Personengruppen) die Beschleunigung besser steuern lässt. Hinzu kommt eine schärfere Abtrennung der sozialen Schichten – sowohl gedanklich als auch praktisch. Die Unterteilung in Gewinner und Verlierer innerhalb des Bildungssystems ist in vollem Gange, wie auch die aktuellen Vergleiche der Bundesländer wieder belegen. Nach wie vor hängen in Deutschland Bildungsgrad und finanzielle Ausgangssituation eng zusammen und im internationalen Vergleich gehört das bestehende System zu den sozial selektivsten. Das kürzlich verabschiedete Sparpaket der Bundesregierung wird diese Entwicklung voraussichtlich noch begünstigen, zumindest ist zu erwarten, dass es die Grenzziehungen weiter verstärkt.
Zuletzt wird die junge Generation dahin erzogen, diese Verhältnisse als gegeben zu akzeptieren, indem Tempowahn und Vorbereitung auf das einzig nützlich erscheinende Ziel – den Arbeitsmarkt – Reflexionsprozesse und somit eine freie Entfaltung der Persönlichkeit verhindern.
Die Politik hat die Jugend an diejenigen verraten, die kein Interesse daran haben, demokratische und soziale Ideale zu erhalten. An diejenigen, die das Wort Humankapital im gängigen Jargon mit sich führen, die Banken für systemrelevanter halten als die Bildung, die als Lobbyisten die Wirtschaftskraft, nicht aber das Wohl des Volkes im Auge haben.

Vor 20 Jahren schien die Ausgangslage für uns – die junge Generation – ausgesprochen gut: Wir erlebten in Deutschland keinen Krieg, ebenso wenig wie unsere Eltern. Unser Leben war nicht von autoritären Gewalten beeinflusst, wir mussten uns auch nicht von solchen loslösen oder die Verhüllung der Vergangenheit anprangern. Selbst den Kalten Krieg, der die europäische Geschichte über Jahrzehnte geprägt hat, zählen wir nicht zu unseren unmittelbaren Lebenserfahrungen. Unter diesen Umständen müssten wir eigentlich die friedfertigste, sozialste und demokratischste Jugend sein, die Deutschland jemals hatte. Das Bildungssystem ist zur Zeit jedoch darauf ausgerichtet, eben das zu verhindern. Die Jugend lernt sich anzupassen und nach bestimmten Mustern zu handeln, nicht aber, eine jeweils eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln, die einen verantwortungsbewussten, mündigen Menschen ausmacht.

Dieser Artikel ist ein Aufschrei. Ein Aufschrei, weil endlich die grundlegende, längst überfällige Bildungsdebatte angestoßen werden muss, die trotz der Proteste an Schulen und Universitäten im vergangenen Herbst ausblieb. Jugend hat in Deutschland keine Lobby – und das bekommt sie von Seiten der Politik regelmäßig zu spüren. Im Falle der Proteste wurden sie oftmals als Störenfriede wahrgenommen. Menschen, die auf Probleme hinwiesen, wurden selbst als Problem angesehen. Die beschwichtigende Vorgehensweise der Politik ist nicht fürsorglich, sondern ignorant. Das ist verständlich, denn die Erfahrung aus den vergangenen Monaten bestätigt leider, dass sich Proteste in Deutschland nicht ewig halten. Die zuständigen Politiker müssen nur lange genug abwarten, bis die Studentenköpfe benommen vor der Wand zusammensinken, gegen die sie immer wieder angelaufen sind. Dabei widerstrebt es den Grundprinzipien der Demokratie, die Bürger ruhig zu halten und Diskussionen zu unterbinden. Dass jedoch Ruhe im System eines der wichtigsten Ziele der Politik ist, deutete nicht nur die Bildungsministerin Anette Schavan, sondern auch Margret Wintermantel, Vorsitzende der Hochschulrektorenkonferenz, Ende Februar an: Zu Beginn einer Pressekonferenz bat Sie die anwesenden Journalisten, den Bologna-Prozess in den Medien bitte nicht schlecht zu reden. Man arbeite inzwischen an Reformen und aus studentischer Sicht sei es bald nicht mehr gerechtfertigt zu protestieren.
Es ist hart, wenn die Diskussion über das Bildungssystem auf einen Bachelor- und Masterabschluss heruntergebrochen werden. Darum geht es nicht. Letztendlich geht es um die Erhaltung freier, demokratischer Werte, um mehr Verantwortungsbewusstsein in Deutschland. Wir – die junge Generation – müssen deshalb endlich gehört werden, da ohne uns die Zukunft nicht möglich sein wird.
Aus diesem Grund ist der vorliegende Artikel nicht nur ein Aufschrei, sondern ebenso eine Anklage. Eine Anklage, die sich gegen die Herrschenden in diesem Land richtet und ihnen keine Dummheit, sondern etwas weitaus Schlimmeres vorwirft: Sie unterstützen die derzeitigen Entwicklungen, obwohl sie genau wissen, wohin diese führen werden.

Michael Feindler 2010