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Monat: Juni 2017

Systemkritik zwischen den Kinosesseln

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog des Vereins „Was bildet ihr uns ein?“

Angehende Lehrer_innen haben es nicht immer leicht. Seit dem 18. Mai läuft der preisgekrönte Dokumentarfilm „Zwischen den Stühlen“ im Kino, er begleitet drei Referendar_innen durch den Praxisteil ihrer Ausbildung. Das hat Hand, Fuß und Witz. Unser Autor Michael Feindler hat sich den Film angesehen und ist dabei zwangsläufig auf die Systemfrage gestoßen.

Ralf hat es geschafft. Die letzte Examensprüfung ist bestanden, das Referendariat damit erfolgreich abgeschlossen. Der stellvertretende Schulleiter des Gymnasiums, an dem Ralf die praktische Ausbildung absolviert hat, lässt aber keinen vorschnellen Jubel aufkommen. Beinahe väterlich, mit einem wissenden Schmunzeln auf den Lippen, gibt er einen kurzen Ausblick auf die kommenden Jahre. So prophezeit er dem aufmerksamen Ralf, dieser werde sicher bald Klassenlehrer. Und zwar bei der Klasse, die sonst niemand haben wolle. Ralf werde dann viele Exkursionen machen, sich arbeitstechnisch übernehmen. Dadurch stehe ihm aller Voraussicht nach in wenigen Monaten eine ernst zu nehmende Ehekrise ins Haus – die er aber bestimmt meistern werde. Und: „Nach zwei bis drei Jahren – denn sehr viel länger werden Sie diese Überlast nicht durchhalten – kommt dann die Überlegung: Werde ich nun zum Berufszyniker? Oder aber: Finde ich noch einen Weg für mich, meine Ansprüche und meine Möglichkeiten gut auszutarieren? Und das wird nach dem Referendariat noch mal eine sehr spannende Zeit.“

Die Szene ist eine der letzten in der Dokumentation „Zwischen den Stühlen“, dem Langfilm-Debüt von Regisseur Jakob Schmidt. Der Kurzvortrag des Co-Rektors ist darin einer von vielen Hinweisen, dass es hier um weitaus mehr geht, als bloß die Referendariatszeit einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Spätestens beim Abspann dürfte allen Zuschauer_innen klar sein: Weder enden die Probleme mit der Lehrer_innenausbildung, noch beginnen sie damit. Denn „Zwischen den Stühlen“ stellt nicht weniger als unser Bildungssystem infrage. Das macht der Film jedoch so dezent, dass einigen Zuschauer_innen die Fundamentalkritik womöglich entgehen wird.

Das Publikum beobachtet drei unterschiedliche Persönlichkeiten im Referendariat

Unabhängig davon, welche Schlüsse Teile des Publikums aus der Dokumentation ziehen oder eben nicht ziehen werden, steht bereits jetzt fest, dass Jakob Schmidt mit „Zwischen den Stühlen“ ein inhaltlich und dramaturgisch starker Film gelungen ist. Fünf Berliner Referendar_innen hat Schmidt über die zweijährige Ausbildungszeit mit der Kamera begleitet, drei davon sind nun als Protagonist_innen in „Zwischen den Stühlen“ zu sehen: Katja übt sich an einer Gesamtschule, Anna an einer Grundschule und Ralf an einem Gymnasium. Hundert Minuten lang folgen die Zuschauer_innen den drei sehr unterschiedlichen Charakteren in Klassenräume, an den heimischen Schreibtisch und zu Ausbildungsseminaren. Sie erleben dabei aus Referendar_innensicht den fordernden Schulalltag. Dank Situationskomik und origineller Bildschnitte wirkt das aufs Publikum jedoch nicht zermürbend, so mitgenommen die Protagonist_innen auch zwischenzeitlich wirken. Zudem blicken Schmidt und sein Filmteam stets interessiert und mitfühlend auf ihre Figuren, sodass das Publikum geneigt ist, immer wieder mit ihnen zu lachen – und nicht über sie.

So ist es kaum verwunderlich, dass der Film bislang auf viel positive Kritik gestoßen ist. Beim Filmfestival DOK Leipzig im Herbst 2016 konnte „Zwischen den Stühlen“ gleich vier Preise abräumen, von der Deutschen Film- und Medienbewertung gab es das Prädikat „besonders wertvoll“ und die Zeitungsrezensent_innen sind voll des Lobes. Doch so freundlich die Kritik in den meisten Medien auch ausfällt (beispielhaft sind hierfür die Süddeutsche Zeitung und der Tagespiegel) – nur wenige Kritiker_innen stoßen bis zum Kern der Probleme vor, auf die der Film aufmerksam macht. Stattdessen wird in aller Ausführlichkeit die Außenwirkung der Protagonist_innen beschrieben und bewertet (u. a. in der Welt am Sonntag und der HAZ). Gerade die Bewertung des Lehrverhaltens der Referendar_innen zeigt, wie anfällig diese Dokumentation dafür ist, als kritisch-unterhaltsamer Lehramtsfilm missverstanden zu werden. Dabei weist der Verleih Weltkino, der den Film vertreibt, in der offiziellen Ankündigung bereits selbst darauf hin, dass „Zwischen den Stühlen“ Ansatzpunkte für eine grundsätzliche Systemkritik bietet: Der Film werfe „nicht zuletzt die Frage auf, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen“.

Der Film fragt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen

Denn er ist eben nur vordergründig eine Dokumentation über das Referendariat – weshalb auch die taz-Kritik, die sich auf die Praxisferne der Lehrer_innenausbildung konzentriert, am Ziel vorbeischießt. Der Film macht sich nur die Ausnahmesituation der künftigen Lehrer_innen – nämlich ihre Rolle, Lernende und Lehrende zugleich zu sein – zunutze, um darüber möglichst viele Teilbereiche des Schulsystems in den Blick zu nehmen. Auf diese Art erfasst er eine erstaunliche Bandbreite an Personengruppen, die sich vom Komplex Schule unter Druck gesetzt fühlen: an erster Stelle natürlich die Referendar_innen, aber genauso erlebt das Publikum gestandene Lehrkräfte, Schüler_innen und Eltern bei ihrem täglichen Kampf mit dem Bildungssystem.

Wie groß der Druck in diesem System ist, hat der Regisseur wiederholt während des Drehs mitbekommen. Im Interview sagt er dazu: „Insgesamt war ich überrascht, dass fast alle Vorbehalte dem Projekt gegenüber von denen kamen, die eigentlich am längeren Hebel saßen: So gab es gleich mehrere Seminarleiter, die nicht wollten, dass wir in ihren Seminaren und Unterrichtsbesuchen mit der Kamera dabei waren. Nicht aber, um unsere Protagonisten zu schützen, sondern aus einer großen eigenen Unsicherheit heraus. Sie machten sich Sorgen darum, zu stark von offiziellen Richtlinien für die Lehrerausbildung abzuweichen, Fehler zu machen, nicht den Erwartungen der Vorgesetzten zu entsprechen und sich damit Karrierechancen zu verbauen.“

Diese Aussage ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Druck, den das Bildungssystem auf seine Akteur_innen ausübt, nicht auf bestimmte Personengruppen innerhalb dieses Systems beschränkt bleibt. Alle darin Agierenden sind Handelnde und Ausgelieferte zugleich, aber jede_r von ihnen hat eine andere Strategie, um sich damit zu arrangieren. In „Zwischen den Stühlen“ erlebt das Publikum immer wieder Schulkritiker_innen, die selbst Teil des Systems sind, sich jedoch nicht imstande sehen, das System grundlegend zu verändern. Besonders eindringlich sind in diesem Zusammenhang die Worte eines Direktors, der einräumt, die derzeitige Form von Schule in Deutschland sei allein auf die Ausbildung eines Mittelmaßes ausgerichtet und könne eine Förderung von besonders leistungsstarken und -schwachen Schüler_innen gar nicht leisten.

Erstaunlicherweise aber macht die Feststellung, dass scharfe Kritiker_innen innerhalb des Systems zu finden sind, dem Regisseur Jakob Schmidt Hoffnung, wie er selbst betont. Seine Begründung: „Während der Dreharbeiten sind wir tatsächlich auf niemanden gestoßen, der gesagt hat: ‚Das System ist gut so wie es ist.‘ Niemand! Egal ob Schulleiter, Ausbilder oder Eltern. Alle sind sich einig, dass Schule sich verändern muss. ‚Wie?‘ ist die große Frage.“

Niemand sieht sich in der Lage, das Bildungssystem zu verändern

Die noch größere Frage, die diesen Film überschattet, lautet jedoch: Was soll da bitteschön Hoffnung machen, wenn allen Beteiligten die Misere bewusst ist, sich aber niemand in der Lage fühlt, diesen Zustand zu beenden? Etwa die Erkenntnis, dass Menschen immer wieder versuchen, ein schlechtes System nicht ganz so schlecht zu gestalten? Dass es Lehrer_innen gibt, die sich wirklich um ihre Schüler_innen bemühen, trotz der kontraproduktiven Rahmenbedingungen? Das ist schön und gut, aber das lässt sich kaum als Hoffnung bezeichnen – höchstens als Zweckoptimismus, dessen Ausgangspunkt die Akzeptanz des bestehenden Schulsystems ist. Denn bei aller Kritik, die die Protagonist_innen in „Zwischen den Stühlen“ an diesem System äußern, wird deutlich: Solange sie systemkonform geäußert wird, verpufft ihre Wirkung. Entlarvend sind in diesem Zusammenhang auch die Filmszenen, in denen Ralf mit seinen Schüler_innen den Roman „Unterm Rad“ von Hermann Hesse im Unterricht bespricht. Von außen betrachtet wirkt es geradezu absurd, dass ein Buch, das mit Kritik am schulischen Leistungsdruck durchzogen ist, nun dazu genutzt wird, diesen Druck weiterhin auf Schüler_innen auszuüben. Aber es wirkt eben nur von außen betrachtet absurd. Innerhalb des Systems funktioniert es.

Daraus erschließt sich die größte Gefahr der Filmrezeption: „Zwischen den Stühlen“ funktioniert auch für solche Zuschauer_innen, deren Kritik am Bildungssystem sich in den Grenzen des Bestehenden bewegt. Denn dadurch, dass ein Großteil des Publikums Teil des schulischen Systems war oder ist, fällt ihm eine Außenansicht tendenziell schwer – obwohl der Film eine solche immer wieder anbietet. Allein schon durch die Darstellung eines Systems, das ausnahmslos alle darin Agierenden unter Druck setzt, sollte sich bei den Zuschauer_innen die Frage aufdrängen, inwiefern das System selbst das Problem ist. Die Antwort darauf kann nur radikal ausfallen.

Dass dem Film ein so eine starke politische Wirkung nicht zugetraut wird, zeigt jedoch schon die Tatsache, dass der Dreh vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wurde. Somit bleibt zu befürchten, dass „Zwischen den Stühlen“ zwar ein gut gemeinter Versuch ist, einen konstruktiven Beitrag zur Bildungsdebatte zu leisten, dass sich die Fundamentalkritik aber in Systemkonformität auflösen wird. Ein erstes klares Anzeichen dafür sind die Unterrichtsmaterialien zum Film, die im Netz zu finden sind: Eine Fragestellung, die das derzeitige Schulsystem grundlegend auf den Prüfstand stellt, sucht man darin vergebens. Stattdessen kann man davon ausgehen, dass es bald einige Schüler_innen geben wird, denen „Zwischen den Stühlen“ nicht wegen seines Inhalts Kopfzerbrechen bereitet, sondern wegen der benoteten Aufgaben, die ihnen ihre Lehrer_innen dazu stellen werden.

Schade. Denn das hat dieser Film nicht verdient.

Michael Feindler 2017