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Ansichten eines Gymnasiasten

Lange Fassung eines Textes aus dem Programm „Artgerechte Spaltung“

Wer gehört zur Unterschicht? Das fragen sich Menschen immer wieder. Und die Antwort ist im Grunde leicht zu geben: Unterschicht, das sind die andern. Das haben wir schon in der Schule gelernt. Und alle, die das damals nicht gelernt haben, waren nicht mit uns auf dem Gymnasium. Die Unterschicht kam bei uns nur vor, wenn wir uns mal als „Asis“ verkleidet haben. Das haben wir eine Woche vor den Abiturprüfungen gemacht. In der so genannten „Motto-Woche“. Jeden Tag ein anderes Verkleidungsmotto. Und ein Tag war „Asi“-Tag. Auf den haben wir uns am meisten gefreut: Endlich mal in Feinripp-Unterhemd und Jogginghose auf den Schulhof setzen, grillen und billiges Bier saufen. Natürlich ironisch. Eine geile Zeit war das.
Ich will damit nicht behaupten, das Gymnasium hätte uns zu besseren Menschen gemacht. Das war gar nicht nötig. Wir waren schon bessere Menschen – sonst wären wir ja keine Gymnasiasten geworden. Das Gleiche gilt für unsere Lehrer.
Mich haben Lehrer unterrichtet, die offen damit gedroht haben, Schülerinnen auf die Realschule abzuschieben, wenn die Noten schlechter wurden. Lehrer, die zu Schülern sagten, sie gehörten nicht hierher. Lehrer, die abfällig äußerten: Wenn wir keine Lust hätten, fürs Abitur zu lernen, sollten wir doch bei der Müllabfuhr arbeiten.
Das Schlimmste daran war, dass wir es geglaubt haben. Für uns war es ganz normal, die Welt in oben und unten einzuteilen. In Gymnasien und Restschulen. In Menschen, die Müll produzieren und solche, die Müll wegbringen. Wir fanden es auch selbstverständlich, dass es für diese Menschen getrennte Schulen geben musste. Jedem das Seine. Nach dem gleichen Prinzip fördern deutsche Gymnasien Schüler mit schlechten Noten – nämlich gar nicht. Warum schwierige Schüler unterstützen, wenn sie auch einfach die Schulform wechseln können? Die stören doch nur die Leistungsstatistik. Die guten ins Töpfchen, die schlechten ins Kröpfchen. Ein ganz natürlicher Prozess.
Durch diese Haltung manifestiert das Gymnasium seit Jahrzehnten gesellschaftliche Spaltungen. Manchmal denke ich mir: Schade, dass ich in meiner Schulzeit so selten mit Realschülern zu tun hatte. Es wäre sicher interessant gewesen, ab und zu mal deren Meinung zum Bildungssystem zu hören. Aber im nächsten Moment denke ich mir auch: Ich hätte es keinem Realschüler zumuten wollen, regelmäßig mit Gymnasiasten zu tun zu haben. Diese herablassenden Blicke wünscht man doch keinem. Wenn ich mir überlege, wie wir damals drauf waren …
Irgendwann reichte es uns nicht einmal mehr, uns von anderen Schulformen abzuheben. Wir wollten auch noch auf dem besten aller Gymnasien sein. Andere städtische Gymnasien hießen bei uns auf dem Schulhof bald nur noch „Hauptschulen, auf denen man Abitur machen kann“.
Gesellschaftlicher Zusammenhalt war mit uns nicht zu machen. In dieser Hinsicht hatten wir jeden Tag Asi-Tag. Was nicht heißt, dass es woanders sozialer zugegangen wäre. Wir haben ja die Horrorgeschichten mitbekommen – aus Brennpunktschulen in Duisburg oder Berlin-Neukölln. Und wenn wir davon hörten, haben wir uns erst recht überlegen gefühlt. Im Grunde unseres Herzens waren wir arrogante Wichser … Dafür konnten wir nichts. Die meisten von uns konnten einen Scheiß dafür, zu den Gewinnern der Gesellschaft zu gehören. Ich für meinen Teil hätte mich schon richtig blöd anstellen müssen, um als Sohn von zwei Akademikern nicht auf einem Gymnasium zu landen. Aber selbst zugeben, dass mein Erfolg vor allem auf den Erfolg meiner Erzeuger zurückzuführen ist? Und damit die eigene Leistung abwerten?
Menschen schieben seit Jahrhunderten andere Identitätsmerkmale vor, um Statusunterschiede zu legitimieren. Merkmale, die angeblich nicht so plump klingen wie „Elternhaus“. Sowas wie Kasten, Stände, Rassen – und in unserem Fall eben „Leistung“. So sind wir durchs komplette Bildungssystem stolziert – mit der Überzeugung, alles unserer eigenen Leistung zu verdanken. Wir brauchten das. Denn je größer die sozialen Unterschiede in einer Gesellschaft, desto größer das Bedürfnis, die Unterschiede zu betonen. Erst recht, wenn wir oben stehen. Denn wo wir mehr gewonnen haben, können wir im Zweifel auch mehr verlieren. Und wo wir verlieren können, fühlen wir uns ständig gezwungen, unseren sozialen Status zu legitimieren.
Wobei das hierzulande auch mal entspannter lief. Da reicht es schon, sich die Geburtenjahrgänge zwischen 1940 und 1970 anzuschauen – die Älteren werden sich erinnern: Wer damals geboren wurde, hatte weitaus höhere Chancen, sozial aufzusteigen als Menschen, die später geboren wurden. Das sind übrigens die selben Jahrgänge, die vorrangig davon profitiert haben, dass bis Mitte der 90er Jahre die Einkommen und Vermögen gleichmäßiger verteilt waren. Und dass das so war, lag kaum an der höheren Leistungsbereitschaft dieser Menschen. Auch wenn die Generation meiner Eltern das gerne so sehen würde. Die Chancengleichheit war damals vor allem aus einem Grund größer: Sie war politisch gewollt. Weil es wirtschaftlich völlig ineffizient gewesen wäre, Menschen die Chancen auf bessere Bildung und mehr Wohlstand zu verbauen. Erst recht in einem zerstörten Land, das gerade zum zweiten Mal in Folge einen Weltkrieg verloren hatte. Man konnte es sich schlicht nicht leisten, dass Menschen mit ihren Fähigkeiten auf der Strecke blieben. Der Gedanke der Chancengleichheit ging sogar so weit, dass in der Bundesrepublik Anfang der 70er Jahre die Idee aufkam, Gesamtschulen flächendeckend als Regelschulen einzuführen. Es blieb aber bei der Idee. Da ging es dem Westen nämlich schon wieder gut genug. Die Fähigkeiten der Bürgerinnen und Bürger voll auszuschöpfen – das war nicht mehr gefragt. Somit blieben die Gymnasien, die Chancengerechtigkeit nahm ab und die Einkommensschere öffnete sich immer weiter. Lauter Spaltungsmechanismen. Und wir, wir sind arrogante Wichser geblieben. Und diese arroganten Wichser glauben bis heute, dass es sinnvoll ist, Kinder in separate Gruppen aufzuteilen und diese Gruppen jahrelang voneinander fernzuhalten. Aber eines Tages treffen sich diese Menschen wieder – nachdem sie ihre Ausbildung oder ihr Studium beendet haben. Dann stößt der Manager auf den Fabrikarbeiter, die Architektin auf den Handwerker und der Oberarzt auf die Krankenschwester. Bei jedem dieser Aufeinandertreffen könnten die Beteiligten vom Wissen und von der Erfahrung des jeweils anderen profitieren. Auf Augenhöhe, versteht sich. Dazu müssten sie aber einander vertrauen. Was sie immer seltener tun. Warum sollten sie auch? Sie kennen sich doch gar nicht.

Michael Feindler 2017

Published inArtgerechte SpaltungBildungKabarettprogrammePolitik

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