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Das Schäfchen und der Löwe

Ein Schäfchen sagte zu der Herde:
„Bleibt ihr nur schön bei Gras und Buchen.
Ich geh zur Höhle, denn ich werde
den alten Löwen dort besuchen.“

Die andern Schafe schreckten auf
und warnten das naive Tier:
„Beim Löwen gehst du sicher drauf!
Mach keinen Mist! Bleib lieber hier!“

Das Schäfchen winkte lächelnd ab
(soweit das mit den Hufen ging)
und meinte: „In die Falle tapp
ich keineswegs, denn sehr gering

ist die Gefahr, die heutzutage
vom Löwen auszugehen scheint,
sodass ich zu behaupten wage:
Er ist nicht länger unser Feind.

Erst letzte Woche schrieb er mir
in einem Brief, er freue sich,
stünd ich demnächst vor seiner Tür.
Bis später! Ich verziehe mich!“

Der Wortlaut dieses Briefs verriet:
Genaues Lesen kann nicht schaden;
denn darin wurde explizit
das Tier zum Essen eingeladen.

Das Schäfchen ist nun längst verdaut,
so bleibt alleine die Erkenntnis:
Wirkt manches Raubtier dir vertraut,
so ist das bloß ein Missverständnis.

Michael Feindler 2012

Published inDumm nickt gutGedichteKabarettprogramme

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