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Liebe auf den ersten Blick

Er glaubte fest im frühen Maie:
Das Schicksal führte ihn zu ihr.
Er saß im Hörsaal, fünfte Reihe,
und sie davor, in Reihe vier.

Ihr braunes Haar fiel leicht und locker,
sie anzuseh’n schien fast vermessen.
Es hätte ihn gewiss vom Hocker
gehauen, hätt er drauf gesessen.

Er musste oft nach vorne linsen:
Ihr Blick war klug und konzentriert,
sie hatte dieses Grübchengrinsen;
sein Inneres war gleich berührt.

Zwar fühlte sich das richtig an,
doch wollte er noch überlegen,
statt bloß zu träumen, und begann,
die nahe Zukunft abzuwägen:

Mal angenommen, diese Frau
(das wusste er ja nicht genau)
wär nicht so jung, wie sie erschien;
am Ende hieße das für ihn,
sie würd ihm in den Ohren liegen
mit Eigenheim und Kinderkriegen.
Vielleicht war’s nicht mehr weit zur Dreißig?
Zwar wirkte sie grad nett und fleißig,
doch wissen Kenner der Natur –
rein biologisch tickt die Uhr.
Auch könnt es sein, dass diese Dame
(ach ja, wie lautete ihr Name?)
noch eine hübsche Schwester hätte,
die wunderbare Menuette
in ihrem Haus zu spielen pflegte
und ihn samt Herz und Geist bewegte –
wodurch er bei der alten Liebe
im Folgenden nur ungern bliebe,
zumal die Schwester jünger wäre –
so stürzte er in die Affäre
mit seiner Schwägerin in spe
und sagte irgendwann „Adé“
zu jener, die jetzt grad was las
und hier im Hörsaal vor ihm saß.
Womöglich lag er gar nicht richtig
und Kinder war’n ihr nicht so wichtig
in ihren nächsten Lebensplänen,
doch sollte er vielleicht erwähnen:
Auf Dauer wär er sicher nicht
der Typ für einen Kind-Verzicht,
denn – wie bei vielen andern Paaren –
wollt er mit fünfunddreißig Jahren
(und ungern später) Vater werden,
um seine Gene hier auf Erden
für Enkel noch zu hinterlassen –
das würd ihm eigentlich gut passen.
Falls diese Frau in Reihe vier
die Zukunftspläne aber schier
unmöglich machte und darauf
bestünde, ihren Lebenslauf
auf Madagaskar fortzusetzen,
dann wär’s wohl schwierig abzuschätzen,
ob sich der Trip zur Insel lohnte
und ob er lieber bei ihr wohnte
als Vater hier im Land zu werden.
Die Reise könnt noch mehr gefährden:
Womöglich stürbe er dann da
an einer Art von Cholera,
bei Palmen, Strand und Himmelblau –
und schuld daran wär diese Frau.
Dann würde er auch nie erfahren,
was mancher Kumpel in den Jahren
der Reise so getrieben hätt,
denn Telefon und Internet
gäb’s sicher kaum im Tropenland –
das wär ihm sonst gewiss bekannt.
Doch wenn die Frau, die er beäugte
(und die sich grad nach vorne beugte,
um dem Dozenten zuzuhören),
womöglich nur in Kammerchören
ein bisschen Brahms und Schubert säng,
dann wär das alles nicht so eng.
Es gäbe dennoch eine Hürde:
Wie lang es ihm gelingen würde,
Gesang zu Hause zu ertragen,
das konnte er nicht sicher sagen.
Und nähme er zudem noch an,
sie würde plötzlich irgendwann …

So spekulierte er im Stillen,
um zum Ergebnis zu gelangen:
Es sprach wohl gegen seinen Willen,
mit dieser Frau was anzufangen.

Als er den Hörsaal dann verließ,
befreit vom Schwärmereigefühl,
und auf die hübsche Dame stieß,
bemerkte er nur knapp und kühl:

„Wir müssen’s gar nicht erst probieren.
Gemeinsam fänden wir kein Glück.“
Doch schien sie wenig zu kapieren.
So ließ er sie verwirrt zurück.

Michael Feindler 2012

Published inDumm nickt gutGedichteKabarettprogramme

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