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Von der Relevanz des Nischendaseins

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog des Vereins „Was bildet ihr uns ein?“

Unter der Überschrift „Deutschland braucht mehr Expertise“ kommentierte Jarina Kajafa in der taz vom 24.07.2015 das bevorstehende Aus des Ukrainistik-Lehrstuhls an der Universität Greifswald. Michael Feindler unterstützt ihr Anliegen, den Lehrstuhl zu erhalten, findet jedoch, dass die Argumentation zu kurz greift.

„Seit einem Jahr tobt mitten in Europa ein Krieg“, beginnt Jarina Kajafa ihren Kommentar. „Jeden Tag sterben in der Ukraine Menschen. Auch die Sprachlosigkeit des Westens ist dafür verantwortlich.“ Von dieser politischen Sprachlosigkeit spannt sie den Bogen zur – bald wörtlich zu nehmenden – Sprachlosigkeit am Lehrstuhl für Ukrainistik in Greifswald. Die Professur an der philosophischen Fakultät steht auf der Kippe. Grund dafür sind „Sparzwänge“, wie es aus dem Dekanat heißt. Zwar soll die Professur nicht gleich endgültig gestrichen werden, doch allen Beteiligten dürfte klar sein, was es bedeutet, wenn sie zunächst für zehn Jahre auf Eis gelegt wird, wie es ein erster Beschluss vorsieht. Dass die Ukrainistik dann noch einmal ein Comeback in Greifswald feiern wird, darf zu Recht bezweifelt werden. Aber ist es bei der Verteidigung einer Professur sinnvoll, an erster Stelle die aktuelle politische Situation anzuführen? Oder sollte die Ukrainistik nicht vielmehr als Fallbeispiel für Nischenfächer im Allgemeinen gesehen werden, unabhängig von der akuten Relevanz?

Der Lehrstuhl ist der einzige seiner Art in ganz Deutschland. Damit gehört er zu den sogenannten „Orchideenfächern“, die kaum Studierende anziehen und seit Jahren in der Bedeutungslosigkeit zu versinken drohen. Gemessen an den Studierendenzahlen (Ukrainisch-Kurse finden oftmals mit weniger als zehn Teilnehmenden statt) wirkt die Ukrainistik tatsächlich wenig bedeutsam. Dabei hat sich der Lehrstuhl in den vergangenen Jahren über Deutschlands Grenzen hinaus einen guten Ruf erarbeitet – unter anderem durch die ukrainische Sommerschule, die Studierende und Wissenschaftler_innen aus den USA und Europa miteinander vernetzte. Daneben schätzen auch außerakademische Kreise die Ukrainistik in Greifswald. Sie ist längst zur Anlaufstelle für politische Initiativen sowie für Verlage auf der Suche nach Übersetzer_innen geworden. Das ändert jedoch nichts an der Außenseiterrolle der Ukrainistik innerhalb der philosophischen Fakultät.

Was rechtfertigt die Schließung eines Studiengangs?

Das Aus für den Lehrstuhl ist noch nicht final beschlossen. Denn zunächst hat ein Veto der Studierenden im Fakultätsrat die Entscheidung über die Zukunft der Ukrainistik bis zum Herbst aufschieben können. Dass sich bis dahin die Ausgangslage grundlegend ändert, ist fraglich. Vermutlich werden sich noch einige kritische Stimmen zu Wort melden, die – wie Jarina Kajafa in der taz – mit der politischen Krise und dem Krieg in der Ukraine argumentieren werden, um für den Erhalt der Ukrainistik an der Universität Greifswald zu plädieren. Aber diese Argumentation greift zu kurz. Was wäre denn, wenn die gesellschaftliche Lage in der Ukraine zur Zeit stabil wäre? Wenn sie in den vergangenen Monaten nicht zu den viel besprochenen Krisenherden innerhalb Europas gezählt hätte?

Im Umgang mit Orchideenfächern erliegt die universitäre Welt leider allzu häufig der kapitalistischen Verwertungslogik: Jedes Fach soll einen konkreten und vor allem messbaren Nutzen für die Gesellschaft haben. Ist das nicht der Fall, scheint es berechtigt, seine Existenz in Frage zu stellen.

Selbstverständlich zeugt es von wenig Fingerspitzengefühl, gerade jetzt die Professur für Ukrainistik in Greifswald auf Eis legen zu wollen. Trotzdem sollten die Kritiker_innen dieses Vorgangs vorsichtig sein, mit dem Hinweis auf die aktuelle politische Krise zu argumentieren. Denn das bedeutet im Umkehrschluss, dass es legitim wäre, weitere Orchideenfächer aus der Hochschullandschaft zu entfernen, deren Nutzen für Wissenschaft und Gesellschaft nicht sofort ersichtlich oder absehbar ist.

Kleine Fächer sind wichtig

Bildung aber gewinnt ihren Wert gerade in der Breite: Als Gesellschaft brauchen wir möglichst viele unterschiedliche Perspektiven auf die Welt, da jede Wissenschaft für sich allein genommen nur ein sehr beschränktes Bild von der Realität zeichnen kann. Erst die Vielfalt führt zu einem gewinnbringenden wissenschaftlichen Diskurs, indem Fehler, die durch eine begrenzte Sichtweise innerhalb einer einzelnen Wissenschaftsdisziplin entstehen, durch andere Aspekte und Ansätze relativiert werden können. Deshalb gilt es, jedes Nischenfach zu verteidigen, selbst wenn sich nur eine Handvoll Studierender und eine kleine Forschungscommunity dafür interessieren sollte. Nur so erhalten wir auf Dauer das, was sich Jarina Kajafa vom Erhalt der Ukrainistik an der Universität Greifswald erhofft: „klare Worte, wissenschaftliche Analyse, fachliche Kompetenz“.

Michael Feindler 2015

Published inBildungEssays und KommentarePolitikWas bildet ihr uns ein?

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