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Monat: Juli 2013

Später Besuch

Ich träumte, dass zu später Stunde
die Klingel meiner Wohnung schellte,
und fragte mich, wer seine Runde
grad zog und sich zu mir gesellte.

Ich öffnete, ums zu erfahren,
nach kurzem Zögern schon die Tür
und meine Worte darauf waren:
„Ach je – was machen Sie denn hier?“

Dort stand ein Mann. Nicht allzu alt.
(Ich würde ihn auf dreißig schätzen.)
Von Bildern war mir die Gestalt
bekannt. Ich bat sie, sich zu setzen.

So trat der Mann gemächlich ein
und ließ sich auf mein Sofa sinken
und merkte an: „Ein Tee wär fein.
Ansonsten brauch ich nichts zu trinken.“

Er sagte das – als wär’s normal –
auf Deutsch (und auch noch ohne Slang!),
denn Träume wirken zwar real,
doch sind bei Sprachen selten streng.

Aus diesem Grunde brauchte ich
mein Englisch gar nicht rauszukramen.
Bei Ingwer-Tee ergab es sich,
dass wir darauf zu sprechen kamen,

wohin den Mann die Reise führte,
auf der er sich zur Zeit befand.
Ich merkte, wie mich das berührte
und dass ich viel Respekt empfand.

Er wurde von Geheimdienstleuten
des Westens nach wie vor gejagt,
sein Kopf erschien auf Titelseiten
und war auf Youtube sehr gefragt.

Er hatte nämlich in der Tat
(zunächst nur heimlich und versteckt)
den Überwachungsapparat
der großen Mächte aufgedeckt.

Und deshalb saßen diese Mächte
ihm jetzt seit Wochen schon im Nacken,
als ob es irgendetwas brächte,
ihn einzufangen und zu packen.

„Denn“, so bemerkte er entspannt,
„die Pläne, die ich jüngst entlarvte,
sind künftig weiterhin bekannt –
ganz gleich, wie hart man mich bestrafte.“

Es gebe nur noch ein Problem:
Solange er im Fokus stehe,
anstelle vom Kontrollsystem,
sei’s besser, wenn er zügig sehe,

sich möglichst ganz zurückzuziehen.
Zum einen nerve es ihn sehr,
vor diesem Lumpenpack zu fliehen,
zum andern sei es leider schwer,

den Menschen draußen zu vermitteln,
sich nicht auf ihn zu konzentrieren.
Er meinte: „Um Euch wachzurütteln,
darf ich mich nicht mehr engagieren.

Ach ja – den Tee hab ich genossen.
Ich wünsche eine gute Nacht!“
Im Anschluss hat er sich erschossen
und ich bin schreiend aufgewacht.

Michael Feindler 2013