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Die Mitte

Wohin das Leben Dich auch treibt,
Du solltest stets die Mitte meiden,
denn wer dort einmal hängen bleibt,
wird immerzu darunter leiden.

Die Mitte nämlich ist die Stelle,
des höchsten Drucks, der größten Angst,
kein Ein-, kein Ausgang, nur die Schwelle,
von der Du kaum noch fortgelangst.

Die Mitte ist die Defensive.
Dort fürchtest Du den tiefen Fall
aus Frosch- und Vogelperspektive,
denn Ängste lauern überall:

Die Menschen vor und über Dir
beneidest Du und eiferst ihnen
seit Jahren nach, doch scheint es schier
unmöglich, Hoffnung zu bedienen,

die darauf aus ist, aufzusteigen
und möglichst weit voranzukommen.
Du weißt: Du wirst es eh vergeigen –
das Ziel bleibt sichtbar, doch verschwommen.

Und hinter oder unter Dich
magst Du die Blicke gar nicht lenken
Du fürchtest ja, dann würde sich
bestätigen, was viele denken:

Dass jeder, der nach unten schaut,
dem Sturz bereits entgegensieht,
sobald er seinem Stand misstraut
und dann sich selbst nach unten zieht.

Du bist Gefangener der Mitte,
wenn unter Dir der Abgrund klafft,
und fehlt Dir, trotz bemühter Schritte,
zum Aufstieg noch die letzte Kraft.

Du würdest gern den Druck vermeiden
und suchst nach einer off’nen Tür.
Am Ende wirst Du sie beneiden:
die über und die unter Dir.

Denn beide Seiten machen frei:
ganz oben hast Du jede Wahl,
ganz unten – das ist schön dabei –
ist alles, was Du tust, egal.

So steckt ein Rat in diesen Worten:
nimm notfalls einen Sturz in Kauf
und halt Dich an den schlimmsten Orten,
doch niemals in der Mitte auf.

Michael Feindler 2014

Published inDas Lachen der OhnmächtigenGedichteKabarettprogramme

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