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Postdemokratie und Neoliberalismus. Kurze Geschichte einer Symbiose

I. Vertrauen

Ein Bonmot, das dem französischen Revolutionär Georges Danton zugeschrieben wird, besagt, wenn der Tempel der Freiheit fest stehe, werde das Volk ihn zu schmücken wissen. In diesem Satz steckt eine Grundannahme, die als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie gelten kann: Nicht bloß, dass die Freiheit des Individuums ein garantiertes Gut sein muss, sondern auch, dass es angebracht ist, den Individuen, aus denen sich das Volk zusammensetzt, in der Ausgestaltung der Freiheit zu vertrauen. Das heißt: Die Menschen werden mit der ihnen auferlegten Verantwortung schon umgehen können. Sie werden wissen, was an Richtigem zu tun ist. Und sie werden ihre Freiheit nicht ohne Weiteres missbrauchen.
Das Vertrauen in die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger ist ein zutiefst aufklärerischer Gedanke. Er steckt in jedem Demokratiekonzept. Ohne diese Art Urvertrauen, dass der beste Herrscher über das Volk immer noch das Volk selbst ist, wäre die ganze Idee hinfällig. Natürlich bleiben Probleme trotzdem nicht aus. Wie jede andere Staatsform kann die Demokratie in Krisen geraten. Sie ist ebenso unvollkommen wie es die Bürgerinnen und Bürger eines Staates sind. Aber so umstritten menschliche Entscheidungen auf politischer Ebene oft sein mögen – letztendlich behält Winston Churchill Recht, der in einer Rede vor dem Britischen Unterhaus einmal äußerte, Demokratie sei die schlechteste Staatsform, abgesehen von all den anderen, die bereits ausprobiert wurden.
An der Demokratie an sich werden im so genannten „freien Westen“ normalerweise keine Zweifel geäußert. Dort ist es gesellschaftlicher Konsens, in der bestmöglichen Staatsform zu leben. Daher verwundert es nicht, dass die Behauptung, andere Länder notfalls mit Waffengewalt demokratisieren zu wollen, nicht nur einmal zur Veredelung einer Kriegserklärung genutzt wurde. Demokratie wird somit buchstäblich zum Kampfbegriff. Als Zweck heiligt sie die brutalsten Mittel. Doch unabhängig davon, dass sich der Begriff nach wie vor einer häufigen rhetorischen Verwendung erfreut, verkommt er inzwischen mehr und mehr zur Worthülse. Die Gefahr, dass die Volksherrschaft ausgehöhlt wird, bis von ihrem eigentlichen Kern nichts mehr übrig bleibt, ist innerhalb des westlichen Staatenbündnisses (insbesondere USA und EU) offensichtlich. Denn zur Zeit lässt sich beobachten, wie eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen der Demokratie verloren geht: das Vertrauen in die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger.
Zunächst handelt es sich dabei um eine These. Im weiteren Verlauf werde ich diese aber untermauern und versuchen zu erklären, woher die kritische Tendenz kommt. Schließlich zieht sie weitreichende Konsequenzen nach sich. Die Feststellung, dass Vertrauen in die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger verloren geht, wirft nämlich eine Fragen auf, deren Antwort die Demokratie in ihren Grundfesten erschüttert: Wer oder was genau verliert hier das Vertrauen? Es wird ja kaum das ganze Volk sein, das das Vertrauen in sich selbst verliert – obwohl das eine naheliegende Vermutung wäre, nähme man den Begriff „Demokratie“ beim Wort: Wenn das Volk herrscht und das Vertrauen in dessen Mündigkeit verloren geht, gibt es schließlich – soweit man keine anderen Bezugspunkte außerhalb der Staatsgrenzen sucht – nur die Möglichkeit, dass das Volk an seiner eigenen Mündigkeit zweifelt. Es sei denn, das Volk ist nur bedingt identisch mit den Herrschenden und zwischen den beiden Gruppen befindet sich eine Verständniskluft. Das jedoch widerspräche der Grundidee von Demokratie.

II. Politik

Leider haben die öffentlichen politischen Diskurse in den vergangenen Jahren wiederholt bestätigt, dass die These von einer Kluft zwischen den Herrschenden und dem Volk zumindest teilweise zutrifft. Um nur vier zeitnahe Beispiele zu nennen:

Im Herbst 2010 beschloss die schwarz-gelbe Bundesregierung mit der Kanzlerin Angela Merkel, die Laufzeit der Kernkraftwerke in Deutschland wieder zu verlängern. Die Atomlobby hatte anscheinend ganze Arbeit geleistet, um die unliebsamen Gesetze zum Atomausstieg – wenige Jahre zuvor unter rot-grüner Federführung entstanden – rückgängig zu machen. Für diesen Schritt hätte sich zu jenem Zeitpunkt keine Mehrheit im Volk gefunden. Dass sich letztendlich der demokratische Wille, die Atommeiler möglichst früh vom Netz zu nehmen, durchsetzte, ist einer Naturkatastrophe in Japan und dem daraus resultierenden Kernkraftwerk-Unfall in Fukushima zu ‚verdanken‘. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich der Volkswille in diesem Fall keineswegs mit Hilfe gewählter Volksvertreter durchgesetzt hat, sondern unter dem Einfluss ‚höherer Gewalt‘.

Ende 2011, auf einem der vielen Höhepunkte der Eurokrise, kam der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou auf die Idee, sein Volk darüber abstimmen zu lassen, ob es das finanzielle Hilfspaket, das das Dreierbündnis aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds beschlossen hatte, annehmen wolle. Allein die Tatsache, dass der Ministerpräsident eine solche Abstimmung überhaupt in Erwägung zog, ließ Börsenkurse sinken, was wiederum für Panik bei anderen europäischen Staatschefs sorgte, die mahnten, man dürfe „die Märkte“ nicht verunsichern. Wenig später nahm die griechische Regierung das EU-Hilfspaket, das gleichzeitig mit starken finanziellen Einschnitten in die Sozialsysteme Griechenlands verbunden war, ohne vorangegangene Volksabstimmung an. Zu viel Demokratie schien in dieser Situation nur zu schaden.

2013 deckte der Whistleblowler Edward Snowden öffentlichkeitswirksam Spionageaktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes NSA im Internet auf, die Zusammenarbeit mit anderen Geheimdiensten wie dem britischen GCHQ und dem deutschen BND eingeschlossen. Über Jahre hatten Konzerne wie Facebook, Google oder auch Telekommunikationsunternehmen die Datensätze ihrer Kunden an die staatlichen Behörden weitergegeben oder die Daten waren auf anderem Wege beschafft worden. Unabhängig von Verdachtsmomenten und ohne juristische Billigung hatten Geheimdienste ihre eigenen Völker ausspioniert. Das allein würde bereits genügen, um zu belegen, dass sich die Herrschenden misstrauisch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern verhalten. Doch in Deutschland zeigte sich die Kluft noch auf andere Weise: Im Sommer 2013 erklärte der Kanzleramtsminister Ronald Pofalla die Ausspäh-Affäre für beendet. Ins selbe Horn blies der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, der nach einer Reise in die USA anmerkte, die Sache sei vom Tisch. Dass das nicht der Fall war, zeigte sich wenige Wochen später, als aufgedeckt wurde, dass das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin über einen längeren Zeitraum vom Geheimdienst der USA abgehört worden war. Diese Enthüllungen riefen die deutsche Regierung erneut auf den Plan und mit einem Mal wurden die Vorwürfe ernster genommen – hier waren schließlich nicht mehr nur normale Bürgerinnen und Bürger, sondern die Politiker selbst ins Visier geraten. Die Kluft zwischen Wählern und Gewählten könnte kaum offensichtlicher sein.

Das zeigt auch der Diskurs zu den geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA beziehungsweise Kanada. Zum einen verlief ein Großteil der bisherigen Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zum anderen bestätigt der Blick in bereits bestehende internationale Freihandelsabkommen die Befürchtungen kritischer Beobachter, dass am Ende ein Vertragswerk herauskommen könnte, das die Interessen von Großkonzernen über die demokratischen Instrumente der Bürgerinnen und Bürger stellt. Die Politiker in der EU – sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene – versuchen beschwichtigend zu reagieren, ohne dass dabei konstruktiv auf Bedenken eingegangen würde, von höherer Transparenz während der Verhandlungen ganz zu schweigen. Die Diskrepanz zwischen Volk und Herrschende bleibt bestehen.

Wie konnte es dazu kommen? Warum gerieten die westlichen Demokratien in diese Krise? Woher stammt das Misstrauen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern? Weshalb gelingt es dem Volk nicht, sich gegen die Herrschenden durchzusetzen, wenn die Staatsform doch angeblich die Macht beim Volke lässt? Ich werde im weiteren Verlauf einen Antwortversuch skizzieren. Dabei stütze ich mich in erster Linie auf die Ausführungen des Politikwissenschaftlers Colin Crouch zum Begriff der Postdemokratie und zum Neoliberalismus. Damit verknüpfe ich die Überlegung, inwiefern die problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht allein von Politik- und Wirtschaftseliten vorangetrieben wurden, sondern indirekt auch durch aufklärerisches Gedankengut, das mit dem Versprechen von Freiheit, Selbstverantwortung und Individualismus zu einem zusätzlichen Wegbereiter der Demokratiekrise wurde. Denn obgleich eine Entfremdung zwischen Volk und Herrschenden diagnostiziert werden kann, stehen alle, die auf irgendeine Weise am Konstrukt Demokratie beteiligt sind, in einer Beziehung zueinander. Die Bürgerinnen und Bürger werden sich fragen müssen, ob sie sich nicht – als die Volksherrschaft nach und nach destabilisiert wurde – zu willfährigen Komplizen gemacht haben, indem sie sich von wohlklingenden Versprechungen verführen ließen und sich einem demokratiefeindlichen Menschenbild fügten.

III. Postdemokratie

Um die Krise der Demokratie als eine solche zu sehen, genügt es nicht, einen Blick in Statistiken zu werfen. Dort stößt man nämlich vor allem auf eine Erfolgsgeschichte: Gerade seit Ende des Kalten Krieges und des Zusammenfalls des Ostblocks sind – beinahe kontinuierlich von Jahr zu Jahr – mehr demokratische Staaten auf der Welt zu verzeichnen, zumindest, wenn man das Merkmal ‚freie Wahlen‘ als Maßstab nimmt. Zwar sind sich Statistiker untereinander uneins, unter welchen Bedingungen man Wahlen als wirklich frei bezeichnen kann, aber dass die Zahl der demokratisch verfassten Staaten in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren deutlich zugenommen hat, bestätigen alle. Um die erwähnte Krise ausfindig zu machen, genügt es also nicht, einen Blick auf die internationalen Wahl-Zahlen zu werfen. Stattdessen muss man sich damit befassen, wie die Demokratie von den Bürgerinnen und Bürgern umgesetzt und gelebt wird. Das macht letztendlich den Kern der Idee aus. Aber darum ist es nicht gut bestellt.
Colin Crouch zeichnet in seinem Werk „Postdemokratie“ ein eher besorgniserregendes Bild von der Entwicklung der westlichen Demokratien. Der Elan, der politische Enthusiasmus, der unbedingte Wille zur demokratischen Entwicklung innerhalb des Volkes scheinen zu schwinden. Die Wahlbeteiligung sinkt, die Parteien verlieren Rückhalt und ihre Mitglieder. Möglicherweise fehlt der Gründergeist, vielleicht bräuchte es die Aufbruchsstimmung wie in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als gerade in Europa eine der schwersten politischen Krisen überwunden werden musste. Denn der Lauf der Geschichte belegt, dass die Staatsform der Volksherrschaft gerade dann gute Chancen hatte, die Bürgerinnen und Bürger politisch zu beflügeln, wenn es galt, sie neu aufzubauen. Aber es steht außer Frage, dass es nicht erstrebenswert ist, alle paar Jahrzehnte einen Krieg anzuzetteln und übergangsweise eine Diktatur zu installieren, damit die Bürgerinnen und Bürger das Konzept der Demokratie im Anschluss wieder höher zu schätzen wissen und sich entsprechend ins politische Leben einbringen.
Nun ließe sich argumentieren, dass – wenn wir momentan in einer politischen Krise stecken – die Wahrscheinlichkeit steigen müsste, dass die derzeitigen Demokratie-Probleme zu einem Aufbäumen des Volkskörpers und einem verstärkten Einsatz für die Demokratie führen müssten. Das trifft jedoch nicht zu, weil die Krise weitaus weniger offensichtlich ist. Zudem unterstellt Crouch nicht, dass die demokratischen Institutionen auf ganzer Linie gescheitert sind. Die Politik kehrt nicht in einen vordemokratischen Zustand zurück. Das, was gerade entsteht, wird mit dem relativ neuen Wort „Postdemokratie“ beschrieben. Crouch definiert den Begriff so: Er „bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten“ (Crouch 2008: 10). Dabei handelt es sich um „eine Situation, in der zwar alle Institutionen der Demokratie weiterbestehen – und teilweise sogar gestärkt werden –, aber gleichzeitig die politische Energie aus ihnen entwichen ist“ (Oehmke/Schmitter 2008). Die Demokratie verkommt demnach zur Farce. Denn das, was diese Staatsform eigentlich ausmachen sollte – der politische Aktivismus der Bürgerinnen und Bürger – kommt darin nicht mehr vor. Ein passives Demokratieverständnis erlangt die Oberhand: Das Volk sieht sich selbst immer weniger befugt, politische Veränderungen herbeizuführen, verabschiedet sich von der aktiven Beteiligungsrolle und verlegt sich hauptsächlich darauf, die Regierung zu kritisieren. Politiker sollen zur Verantwortung gezogen und das System transparenter gestaltet werden. Meinungsumfragen erscheinen in diesem Rahmen als eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten, um auf die gewählten Volksvertreter Einfluss zu nehmen.
Wenn aber der Fokus darauf liegt, dass die Bürgerinnen und Bürger schon von sich aus die Gesellschaft in „die da oben“ und „wir hier unten“ aufteilen, ohne sich selbst als aktiv handelnden Teil der Politik zu begreifen, wird die Grundidee der Demokratie in Frage gestellt. Crouch plädiert dafür, dass eine funktionierende Demokratie sowohl positive als auch negative Rechte des Volkes braucht. Die positiven heben die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger hervor, sich am Gemeinwesen zu beteiligen; die negativen sollen das Individuum gegen andere schützen und die Kontrolle politischer Entscheidungsvorgänge ermöglichen. Zur Zeit dominiert das negative Modell, obgleich klar sein müsste, dass es gerade die positiven Rechte sind, welche die kreative Energie der Demokratie ausmachen. Das gesamte Parteiensystem fußt ursprünglich auf diesem Verständnis: Menschen sollen innerhalb einer organisierten Gruppe kollektive Identitäten entwickeln, artikulieren darüber ihre Interessen, die sie dann gebündelt an beziehungsweise in die Politik weiterleiten.

IV. Passivität

Wenn dieses Verständnis jedoch schwindet, verwundert es nicht, wenn den Parteien der Mitgliedernachwuchs fern bleibt. Der Gebrauch von Formulierungen wie „Das ist alternativlos!“ oder die Rede von einer „marktkonformen Demokratie“ schrecken das Volk noch weiter ab und bestätigen bei vielen Bürgerinnen und Bürgern die Meinung, sie hätten ohnehin keinen Einfluss auf die Politik. Das Ergebnis ist das, was im Volksmund mit dem schwammigen Begriff ‚Politikverdrossenheit‘ beschrieben wird. Wahlen werden zum wichtigsten Partizipationsinstrument und die eigentliche Verantwortung wird auf politische Eliten abgeschoben. PR-Profis unterstützen die Wählerinnen und Wähler dabei in ihrer bequemen Zuschauerhaltung, indem der Politzirkus als Event präsentiert wird, gerne in Talkshow-Formaten, in denen die Personalisierung von Politik weiter vorangetrieben wird, statt den Fokus auf Inhalte zu legen. Das hat zur Folge, dass die Bürgerinnen und Bürger ihr Recht, die Herrschenden zu kontrollieren und zu kritisieren, für noch wichtiger erachten als bisher. Wenn etwas nicht nach ihren Vorstellungen läuft, beschweren sie sich, machen bei der nächsten Wahl ihr Kreuz an einer anderen Stelle und sich in Meinungsumfragen bemerkbar. Dieses Verhalten bleibt in den meisten Fällen jedoch oberflächlich, weil es kaum konstruktive Handlungsvorschläge nach sich zieht. Die negativen Rechte sind eben nur ein Teil einer funktionierenden Demokratie. Die positive Interpretation der Volksherrschaft fehlt nach wie vor. Wenn aber die Bürgerinnen und Bürger ihren aktiven Part vernachlässigen, entsteht ein Machtvakuum, das innerhalb kürzester Zeit von Lobbyisten gefüllt wird. Nun wäre es prinzipiell möglich, dass das Volk dies bemerkt und bewusst gegensteuert. Dies geschieht jedoch nicht, solange die Wählerinnen und Wähler meinen, das gegenwärtige Demokratiekonzept sei im Grunde richtig und es ginge in erster Linie darum, die regierenden Politiker zu kontrollieren, wenn im Staat etwas schief läuft. Somit geraten weniger die Lobbyisten und ihre Arbeitgeber ins Visier der Kritik als vielmehr die gewählten Volksvertreter. Das hat zur Folge, dass das Volk im Staatsapparat selbst das eigentliche Problem sieht und verlangt, der Staat möge sich noch weiter aus öffentlichen Angelegenheiten zurückziehen. Das wiederum spielt denjenigen in die Hände, die aus Eigeninteresse schon immer dafür plädierten, der Staat solle sich insbesondere aus ökonomischen Angelegenheiten heraushalten.

Kein Machtvakuum bleibt lange vakant, erst recht nicht im Zeitalter der Globalisierung, in dem internationale Großkonzerne zunehmend an Bedeutung gewinnen. Rhetorisch haben sie leichtes Spiel, wenn sie an den Freiheitsdrang der Menschen appellieren. Niemand möchte schließlich gerne bevormundet werden. Erst recht nicht in einer Demokratie. Das ist das Perfide: Einerseits wird den Bürgerinnen und Bürgern ein Teil ihrer demokratischen Selbstverantwortung genommen, indem die öffentlichen Einrichtungen, in denen die bürgerliche Verantwortung demokratisch eingesetzt werden könnte, in die Defensive gedrängt werden. Gleichzeitig wird an die Selbstverantwortung appelliert und der Staat zum Gegner derselben erklärt. Dass ein demokratischer Staat, der doch per definitionem auf die rege Beteiligung des Volkes angewiesen ist, etwas gegen ein stärkeres Verantwortungsbewusstsein seiner Bürgerinnen und Bürger hat, ist ein Widerspruch, der in der öffentlichen Debatte leider zu selten thematisiert wird. So sieht man den Staat immer wieder als Hauptproblem, während durch die Hintertüren und Hinterzimmer Privilegien für bestimmte Unternehmer eingeführt werden – stets unter dem Deckmantel von neoliberaler Marktwirtschaft und freiem Wettbewerb. Im postdemokratischen Umfeld kann die Saat des Neoliberalismus bestens gedeihen. Oder ist es eher umgekehrt, dass Postdemokratie auf neoliberalem Boden besonders gut wächst?

V. Neoliberalismus

Es gibt unterschiedliche Ansätze, die erklären, warum sich der Neoliberalismus seit den 1980er Jahren im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs als die einflussreichste Ideologie durchgesetzt hat. Die Krise des Keynesianismus im Zuge der Ölkrisen hat sicher ihren Teil dazu beigetragen, aber ein neues politisches Konzept setzt sich nicht allein deshalb durch, weil ein anderes gescheitert ist. Es braucht starke Interessengruppen, die es vertreten und verteidigen. Und idealerweise ist die Seite der Konzeptgegner schwächer. Im Falle des Neoliberalismus war beides gegeben. Einerseits gab es mit finanzstarken Unternehmern aus dem Privatsektor eine einflussreiche Gruppe, die ihren Zugang zu den Schaltstellen der Politik zu nutzen wusste, andererseits profitierte das neoliberale Konzept vom Niedergang der Arbeiterklasse, die mit den Gewerkschaften im Rücken lange die größte Gegnerschaft stellen konnte. Sozialsysteme, Bildung und Infrastruktur Stück für Stück zu privatisieren und in den Markt überzuführen, wäre in Ländern mit mächtigen Gewerkschaften undenkbar gewesen. Aber wenn eine gesellschaftliche Klasse zerfällt und im Anschluss weder identitätsstiftend wirken kann, noch in der Lage ist, der erstarkenden Gegenseite finanziell die Stirn zu bieten, ist der Kampf bereits verloren. Zumal die Befürworter des neoliberalen Konzepts nicht auf ein solidarisches Gruppendenken angewiesen waren. Stattdessen folgten sie dem Leitbild des homo oeconomicus, also dem in den Wirtschaftswissenschaften prominenten theoretischen Konstrukt eines Menschen, der grundsätzlich egoistisch denkt und das ebenfalls allen anderen Menschen unterstellt. In einer Welt, in der der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, macht das den Unterschied aus, der darüber entscheidet, wer sich politisch durchsetzt und wer scheitert. Die Idee vom rein egoistisch motivierten Menschen wurde in der öffentlichen Debatte vor allem mit einem Plädoyer für Selbstverantwortung und (ökonomische) Freiheit verbunden – zwei positiv behaftete Werte, die die gesellschaftliche Akzeptanz des homo oeconomicus begünstigten. Auch in diesem Zusammenhang tauchte wiederholt das Bild des bevormundenden Staates auf, der seine Bürgerinnen und Bürger an der freien Entfaltung hindert. Der Neoliberalismus versprach, dem Volk seine verlorene Freiheit zurückzugeben. Aber welche Freiheit genau war damit gemeint? Und vor allem: Freiheit für wen? Wohl kaum für die Menschen, werden Skeptiker sagen. Aber ob es stattdessen um Märkte geht, kann ebenfalls in Frage gestellt werden.

VI. Widersprüche

Zwar ist es eine weit verbreitete Auffassung, der Neoliberalismus setze in erster Linie auf freie Marktwirtschaft, doch Colin Crouch widerspricht dieser Behauptung. Es gehe vor allem um den politischen Einfluss von Großkonzernen. Somit zielen Debatten, die allein um das Verhältnis von Staat und Markt kreisen, am eigentlichen Problem vorbei. Die politische Szenerie wird nicht mehr länger von Auseinandersetzungen, sondern von Vereinbarungen zwischen Staat, Markt und Großkonzernen bestimmt. Die neue dritte Variable bringt Crouch auch deshalb ins Spiel, weil er verdeutlichen will, dass die klare Trennung zwischen Markt und Staat, wie sie im Diskurs oft vorausgesetzt wird, nicht möglich ist. Zum einen ist der Staat die Hauptquelle für Maßnahmen gegen etwaiges Marktversagen, zum anderen ist der Markt auf ein funktionierendes Rechtssystem angewiesen. Vor dem Hintergrund ist die Überlegung, der Markt solle sich von staatlichen Einflüssen befreien und könne ohne diese viel besser existieren, geradezu absurd. Ohne staatliche Rahmenvorgaben gibt es keinen verlässlichen Markt, ohne entsprechende Gesetze und eine durchsetzungsfähige Exekutive hätten Kaufleute nicht die Sicherheit, dass sich Vertragspartner an Vereinbarungen halten. Andererseits wäre eine Trennung von Markt und Staat ab einem bestimmten Punkt wünschenswert, da die Verflechtungen spätestens dann als problematisch einzustufen sind, wenn in einer Demokratie Reichtum mit politischem Einfluss einhergeht.
Betrachten wir nun aber die Rolle der Großkonzerne in der Dreierkonstellation: Diese Art von Unternehmen hat in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen, vor allem, weil die Konzerne im Extremfall in der Lage sind, einen Markt selbstständig zu beherrschen und zu manipulieren. Hauptmerkmal eines Großkonzerns ist, dass er global operiert, sodass er weniger an bestimmte Nationen gebunden ist und Staaten gegeneinander ausspielen kann, indem er beispielsweise mit Abwanderung und Arbeitsplatzverlusten droht, wenn ihm keine Steuervergünstigungen angeboten werden.
Die daraus resultierende marktbeherrschende Stellung widerspricht bereits der Behauptung, es gehe bei der Durchsetzung neoliberaler Konzepte um die Befreiung der Märkte. Denn einen freien Markt macht – laut Argumentation wirtschaftsliberaler Ökonomen – in erster Linie die Wettbewerbssituation aus. Ein mächtiger internationaler Großkonzern kann kleinere Mitbewerber jedoch problemlos niederkonkurrieren, wodurch die Wettbewerbsmechanismen außer Kraft gesetzt werden. Damit stellt sich automatisch die Frage, was das Ganze aus neoliberaler Sicht bringen soll. Schließlich zieht jetzt nicht mehr das Argument, Wettbewerb sei wichtig und trage deshalb zur Markteffizienz bei, weil es erst im Umfeld von Konkurrenz den Ansporn gebe, die preislich und qualitativ besten Konsumgüter zu produzieren. Diesen inneren Widerspruch lösen die Verfechter des Neoliberalismus, indem sie die Priorität vom Wettbewerb auf die „Konsumentenwohlfahrt“ verschieben. Sie argumentieren, dass ein Großkonzern schon aufgrund seiner schieren Größe in der Lage ist, einen Markt von sich aus effizienter zu gestalten und gezielter auf Kundenwünsche einzugehen. Außerdem zeige die Monopolstellung eines Großkonzerns, dass er sich zuvor im Wettbewerb durchgesetzt habe – und damit sei seine überragende Effizienz bewiesen. Diese Auffassung lässt zu, dass ein Wettbewerb irgendwann sein konsequentes Ende erreicht: Der Stärkste gewinnt.

VII. Bündnisse

Spätestens an dieser Stelle dürfte klar sein, wie wenig es den Neoliberalen um die Aufrechterhaltung einer Konkurrenzsituation geht. Wichtiger sind Machtgewinn und -erhalt, die grundsätzlich mit einer Steigerung des finanziellen Umsatzes einhergehen. Je größer der politische Einfluss, desto höher fallen die Jahresbilanzen aus. So kommt es in der Dreierkonstellation aus Staat, Markt und Großkonzernen zu einem fragwürdigen Bündnis: Staat und Großkonzerne verbünden sich gegen den Markt, der normalerweise einen freien Wettbewerb gewährleisten sollte. Wollte man Machtkonzentration in den Händen weniger Unternehmen verhindern, wäre es hingegen nötig, dass sich der Staat mit dem Markt gegen die Großkonzerne verbündet. Das könnte mit Hilfe kartellrechtlicher Maßnahmen gewährleistet werden, geschieht heutzutage aber immer seltener, weil zu häufig wirtschaftsschädliche Folgen befürchtet werden.
Daher liegt es nahe, dass das dritte mögliche Bündnis ebenfalls genutzt wird: Die Großkonzerne verbünden sich mit dem Markt gegen den Staat. Ist dieser Staat demokratisch verfasst, handelt es sich dabei um nichts Geringeres als einen direkten Angriff auf die Demokratie. Das gängige Instrument ist die Privatisierung des öffentlichen Sektors. Entgegen der landläufigen Meinung ist es hier nicht so, dass der Staat an die Bedingungen des Marktes angepasst wird, sondern an die Bedingungen der Großkonzerne. Und obgleich auch in diesem Bereich viel von Effizienz und Konkurrenzdruck gesprochen wird, haben wir es keineswegs mit einem freien Markt zu tun. Denn es gibt kaum einen sichereren Markt als einen öffentlichen Sektor, der die Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten soll. Lag die Machtkonzentration zuvor in den Händen von Beamten, wird sie nun zugunsten privater Anbieter abgegeben. Da ein gewisses Maß an Grundversorgung im demokratischen Staat aber weiterhin gewährleistet sein soll, wird der öffentliche Sektor – jetzt in der Hand eines Konzerns – weiterhin aus Steuergeldern beziehungsweise von den Bürgerinnen und Bürgern direkt finanziert. Wichtigster Unterschied: der neue Besitzer der öffentlichen Einrichtung arbeitet gewinnorientiert und damit möglicherweise finanziell effizienter.
Unabhängig davon, ob das nun besser oder schlechter ist, müsste es in einer Demokratie aber wenigstens die Möglichkeit geben, diese Frage zu diskutieren. Im Gegensatz dazu beansprucht der Neoliberalismus – wie jede Ideologie – für sich, ein Allheilmittel zu sein. Diskussionen haben keinen Platz. Es gibt nur einen richtigen Weg. Und der ist alternativlos. Mit dieser vor Selbstbewusstsein strotzenden Haltung treten Großkonzerne heute den demokratischen Staaten entgegen. Die Bürgerinnen und Bürger haben das Vertrauen in ihre Regierungen verloren und gehen beinahe schon automatisch davon aus, dass die gewählten Politiker inkompetent sind und Steuergelder völlig ineffizient verschleudern. Ein Volk aber, das nicht mehr auf die eigenen politischen Einflussmöglichkeiten vertraut, identifiziert sich nicht länger mit dem Staat, den es ausmachen sollte. Es verliert sein demokratisches Bewusstsein. Den Politikern, die um das grundsätzliche Misstrauen von Seiten der Bürgerinnen und Bürger wissen, gelingt es ebenfalls nicht, den demokratischen Staat selbstbewusst und überzeugend gegen die Interessen von Großkonzernen zu verteidigen. Ob der Grund dafür in erster Linie eine zu enge Verflechtung mit der Wirtschaft, Lobbyisten-Hörigkeit, Selbstzweifel aufgrund der weit verbreiteten Politikverdrossenheit oder einfach nur ein Mangel an Kreativität und Eigeninitiative ist, sei dahingestellt. Wenden wir uns lieber der Frage zu, wie all diese Entwicklungen ineinandergreifen und was das für die Zukunft der Demokratie bedeutet.

VIII. Weiter

Fügt man die Teile der oben dargelegten Argumentation zusammen, scheint sich ein stimmiges Bild zu ergeben, in dem die einzelnen Aspekte logisch miteinander verknüpft sind:

Dank Neoliberalismus hat sich das Leitbild vom homo oeconomicus in unserer Gesellschaft endgültig durchsetzen können.
Begünstigt wurde das von einer positiv wahrgenommenen Freiheits- und Selbstverantwortungs-Rhetorik.
Mit dem Niedergang der Arbeiterklasse sank parallel der solidarische Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft, was das Leitbild des rein egoistisch motivierten homo oeconomicus weiter begünstigte.
Mit dem Fokus auf der Selbstverantwortung entfernten sich die Bürgerinnen und Bürger gedanklich immer mehr vom Engagement für das Gemeinwesen.
Die demokratischen Institutionen blieben weiterhin bestehen und erfüllten nach wie vor ihre Funktionen, wenn auch mit sinkender Unterstützung aus der Bevölkerung.
Der Neoliberalismus suggerierte, klare Lösungskonzepte für staatliche Probleme bereitzuhalten und nährte gleichzeitig den Zweifel an der Inkompetenz gewählter Regierungen – auch bei den Politikern selbst.
Das Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber ihren gewählten Volksvertretern wurde größer, sie sahen sich zudem selbst immer weniger in der politischen Verantwortung.
Forderungen nach einem Rückzug des Staates mehrten sich, der Neoliberalismus trat seinen Siegeszug in Form von Privatisierungen im öffentlichen Sektor an.
Das Vertrauen in die Mündigkeit des Volkes und der Politiker wurde nach und nach zerstört.

Ich behaupte nicht, dass die soeben aufgezählten Schritte die demokratische Entwicklung in den westlichen Staaten hinreichend zusammenfassen. Sie sind vielmehr die überspitzte Verkürzung eines Erklärungsversuchs, der keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Das soll er in diesem Rahmen auch gar nicht. Er kann höchstens einen Denkanstoß liefern, die derzeitige Krise der Demokratie aufmerksam weiterzuverfolgen und die Zusammenhänge im Blick zu behalten.
Weder das Phänomen der Postdemokratie, noch die Ideologie des Neoliberalismus existiert unabhängig vom jeweils anderen. Ebenso wenig lässt sich heutzutage das Leitbild des egoistischen homo oeconomicus strikt vom Rückzug entpolitisierter Menschen in den privaten Individualismus trennen. Machen wir uns bewusst, dass es hierbei wechselseitige Wirkungen gibt, bleibt ein Rest Hoffnung, dass auch wir als Bürgerinnen und Bürger noch einen Einfluss auf die politische Entwicklung haben, und zwar jenseits der Wahlurne. Das Vertrauen in die Demokratie beginnt mit dem Vertrauen in unsere eigene Mündigkeit. Und wenn wir jenes von Seiten der Herrschenden schon nicht erwarten, müssen wir es uns wenigstens selbst überzeugend entgegenbringen können. Vielleicht raffen wir uns dann bald auf, um – wie Georges Danton es ausdrückte – den „Tempel der Freiheit“ auszuschmücken. Aber vorher werden wir ihn stabilisieren müssen. Er wackelt.

Michael Feindler 2014


Passende Literaturempfehlungen:

Crouch, Colin: Postdemokratie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
Crouch, Colin: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2011
Harvey, David: Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Rotpunktverlag, Zürich 2007
Nordmann, J./Hirte, K./Ötsch, W. O. (Hrg.): Demokratie! Welche Demokratie?, Kritische Studien zu Markt und Gesellschaft (Band 5), Metropolis-Verlag, Marburg 2012
Schirrmacher, Frank: Ego – Das Spiel des Lebens, Karl Blessing Verlag, München 2013

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