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Reiseweisheiten

Ein Mensch erkennt normalerweise
auf jeder ausgedehnten Reise,
wie wenig er doch wissen kann.
Und völlig gleich, wohin er fährt,
wie lang er bleibt – zurückgekehrt,
erinnert er sich oft daran,

dass jeder Weg und jede Fahrt
ihm stetig Neues offenbart,
was er aus dieser Perspektive
zu Hause an der Arbeitsstätte
gewiss noch nicht betrachtet hätte –
da braucht’s die Reiseoffensive!

So wird ihm mehr und mehr präsent
(je mehr er von der Welt nun kennt),
wie relativ doch vieles ist:
Denn, was er einmal hierzuland
als richtig oder falsch empfand,
erscheint als menschliches Gerüst,

das wie ein Kartenhaus zerfällt,
sobald er in der weiten Welt
woanders mal Gebräuche sieht,
die scheinbar bestens funktionieren
und die er – statt zu kritisieren –
ein Stückweit besser nachvollzieht.

Ein andrer Mensch, der nie sehr weit
gereist ist, meint: Er weiß Bescheid
bezüglich Anstand und Moral!
Worum es im Gespräch auch geht,
ist eins gewiss: Sein Urteil steht –
denn vieles hält er für banal.

Das zeigt, wie sehr sich jemand irrt,
der glaubt, was oft behauptet wird:
Dass Reisen klug und glücklich macht.
Denn hat man erst die Welt durchquert,
sind Meinungen verdreht, verkehrt,
und Weltbild-Zweifel angebracht.

Statt Reiseweg und Ziel zu wählen
ist deshalb jedem zu empfehlen,
sich hinter beide Ohr’n zu schreiben:
Dagegen, dass man nicht vergisst,
was gut, was schlecht, was fraglich ist,
hilft eines nur: zu Haus zu bleiben!

Michael Feindler 2013

Published inGedichteMonatsgedichte

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