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Kategorie: Essays und Kommentare

Systemkritik zwischen den Kinosesseln

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog des Vereins „Was bildet ihr uns ein?“

Angehende Lehrer_innen haben es nicht immer leicht. Seit dem 18. Mai läuft der preisgekrönte Dokumentarfilm „Zwischen den Stühlen“ im Kino, er begleitet drei Referendar_innen durch den Praxisteil ihrer Ausbildung. Das hat Hand, Fuß und Witz. Unser Autor Michael Feindler hat sich den Film angesehen und ist dabei zwangsläufig auf die Systemfrage gestoßen.

Ralf hat es geschafft. Die letzte Examensprüfung ist bestanden, das Referendariat damit erfolgreich abgeschlossen. Der stellvertretende Schulleiter des Gymnasiums, an dem Ralf die praktische Ausbildung absolviert hat, lässt aber keinen vorschnellen Jubel aufkommen. Beinahe väterlich, mit einem wissenden Schmunzeln auf den Lippen, gibt er einen kurzen Ausblick auf die kommenden Jahre. So prophezeit er dem aufmerksamen Ralf, dieser werde sicher bald Klassenlehrer. Und zwar bei der Klasse, die sonst niemand haben wolle. Ralf werde dann viele Exkursionen machen, sich arbeitstechnisch übernehmen. Dadurch stehe ihm aller Voraussicht nach in wenigen Monaten eine ernst zu nehmende Ehekrise ins Haus – die er aber bestimmt meistern werde. Und: „Nach zwei bis drei Jahren – denn sehr viel länger werden Sie diese Überlast nicht durchhalten – kommt dann die Überlegung: Werde ich nun zum Berufszyniker? Oder aber: Finde ich noch einen Weg für mich, meine Ansprüche und meine Möglichkeiten gut auszutarieren? Und das wird nach dem Referendariat noch mal eine sehr spannende Zeit.“

Die Szene ist eine der letzten in der Dokumentation „Zwischen den Stühlen“, dem Langfilm-Debüt von Regisseur Jakob Schmidt. Der Kurzvortrag des Co-Rektors ist darin einer von vielen Hinweisen, dass es hier um weitaus mehr geht, als bloß die Referendariatszeit einer kritischen Betrachtung zu unterziehen. Spätestens beim Abspann dürfte allen Zuschauer_innen klar sein: Weder enden die Probleme mit der Lehrer_innenausbildung, noch beginnen sie damit. Denn „Zwischen den Stühlen“ stellt nicht weniger als unser Bildungssystem infrage. Das macht der Film jedoch so dezent, dass einigen Zuschauer_innen die Fundamentalkritik womöglich entgehen wird.

Das Publikum beobachtet drei unterschiedliche Persönlichkeiten im Referendariat

Unabhängig davon, welche Schlüsse Teile des Publikums aus der Dokumentation ziehen oder eben nicht ziehen werden, steht bereits jetzt fest, dass Jakob Schmidt mit „Zwischen den Stühlen“ ein inhaltlich und dramaturgisch starker Film gelungen ist. Fünf Berliner Referendar_innen hat Schmidt über die zweijährige Ausbildungszeit mit der Kamera begleitet, drei davon sind nun als Protagonist_innen in „Zwischen den Stühlen“ zu sehen: Katja übt sich an einer Gesamtschule, Anna an einer Grundschule und Ralf an einem Gymnasium. Hundert Minuten lang folgen die Zuschauer_innen den drei sehr unterschiedlichen Charakteren in Klassenräume, an den heimischen Schreibtisch und zu Ausbildungsseminaren. Sie erleben dabei aus Referendar_innensicht den fordernden Schulalltag. Dank Situationskomik und origineller Bildschnitte wirkt das aufs Publikum jedoch nicht zermürbend, so mitgenommen die Protagonist_innen auch zwischenzeitlich wirken. Zudem blicken Schmidt und sein Filmteam stets interessiert und mitfühlend auf ihre Figuren, sodass das Publikum geneigt ist, immer wieder mit ihnen zu lachen – und nicht über sie.

So ist es kaum verwunderlich, dass der Film bislang auf viel positive Kritik gestoßen ist. Beim Filmfestival DOK Leipzig im Herbst 2016 konnte „Zwischen den Stühlen“ gleich vier Preise abräumen, von der Deutschen Film- und Medienbewertung gab es das Prädikat „besonders wertvoll“ und die Zeitungsrezensent_innen sind voll des Lobes. Doch so freundlich die Kritik in den meisten Medien auch ausfällt (beispielhaft sind hierfür die Süddeutsche Zeitung und der Tagespiegel) – nur wenige Kritiker_innen stoßen bis zum Kern der Probleme vor, auf die der Film aufmerksam macht. Stattdessen wird in aller Ausführlichkeit die Außenwirkung der Protagonist_innen beschrieben und bewertet (u. a. in der Welt am Sonntag und der HAZ). Gerade die Bewertung des Lehrverhaltens der Referendar_innen zeigt, wie anfällig diese Dokumentation dafür ist, als kritisch-unterhaltsamer Lehramtsfilm missverstanden zu werden. Dabei weist der Verleih Weltkino, der den Film vertreibt, in der offiziellen Ankündigung bereits selbst darauf hin, dass „Zwischen den Stühlen“ Ansatzpunkte für eine grundsätzliche Systemkritik bietet: Der Film werfe „nicht zuletzt die Frage auf, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen“.

Der Film fragt, in welcher Gesellschaft wir leben wollen

Denn er ist eben nur vordergründig eine Dokumentation über das Referendariat – weshalb auch die taz-Kritik, die sich auf die Praxisferne der Lehrer_innenausbildung konzentriert, am Ziel vorbeischießt. Der Film macht sich nur die Ausnahmesituation der künftigen Lehrer_innen – nämlich ihre Rolle, Lernende und Lehrende zugleich zu sein – zunutze, um darüber möglichst viele Teilbereiche des Schulsystems in den Blick zu nehmen. Auf diese Art erfasst er eine erstaunliche Bandbreite an Personengruppen, die sich vom Komplex Schule unter Druck gesetzt fühlen: an erster Stelle natürlich die Referendar_innen, aber genauso erlebt das Publikum gestandene Lehrkräfte, Schüler_innen und Eltern bei ihrem täglichen Kampf mit dem Bildungssystem.

Wie groß der Druck in diesem System ist, hat der Regisseur wiederholt während des Drehs mitbekommen. Im Interview sagt er dazu: „Insgesamt war ich überrascht, dass fast alle Vorbehalte dem Projekt gegenüber von denen kamen, die eigentlich am längeren Hebel saßen: So gab es gleich mehrere Seminarleiter, die nicht wollten, dass wir in ihren Seminaren und Unterrichtsbesuchen mit der Kamera dabei waren. Nicht aber, um unsere Protagonisten zu schützen, sondern aus einer großen eigenen Unsicherheit heraus. Sie machten sich Sorgen darum, zu stark von offiziellen Richtlinien für die Lehrerausbildung abzuweichen, Fehler zu machen, nicht den Erwartungen der Vorgesetzten zu entsprechen und sich damit Karrierechancen zu verbauen.“

Diese Aussage ist ein weiterer Beleg dafür, dass der Druck, den das Bildungssystem auf seine Akteur_innen ausübt, nicht auf bestimmte Personengruppen innerhalb dieses Systems beschränkt bleibt. Alle darin Agierenden sind Handelnde und Ausgelieferte zugleich, aber jede_r von ihnen hat eine andere Strategie, um sich damit zu arrangieren. In „Zwischen den Stühlen“ erlebt das Publikum immer wieder Schulkritiker_innen, die selbst Teil des Systems sind, sich jedoch nicht imstande sehen, das System grundlegend zu verändern. Besonders eindringlich sind in diesem Zusammenhang die Worte eines Direktors, der einräumt, die derzeitige Form von Schule in Deutschland sei allein auf die Ausbildung eines Mittelmaßes ausgerichtet und könne eine Förderung von besonders leistungsstarken und -schwachen Schüler_innen gar nicht leisten.

Erstaunlicherweise aber macht die Feststellung, dass scharfe Kritiker_innen innerhalb des Systems zu finden sind, dem Regisseur Jakob Schmidt Hoffnung, wie er selbst betont. Seine Begründung: „Während der Dreharbeiten sind wir tatsächlich auf niemanden gestoßen, der gesagt hat: ‚Das System ist gut so wie es ist.‘ Niemand! Egal ob Schulleiter, Ausbilder oder Eltern. Alle sind sich einig, dass Schule sich verändern muss. ‚Wie?‘ ist die große Frage.“

Niemand sieht sich in der Lage, das Bildungssystem zu verändern

Die noch größere Frage, die diesen Film überschattet, lautet jedoch: Was soll da bitteschön Hoffnung machen, wenn allen Beteiligten die Misere bewusst ist, sich aber niemand in der Lage fühlt, diesen Zustand zu beenden? Etwa die Erkenntnis, dass Menschen immer wieder versuchen, ein schlechtes System nicht ganz so schlecht zu gestalten? Dass es Lehrer_innen gibt, die sich wirklich um ihre Schüler_innen bemühen, trotz der kontraproduktiven Rahmenbedingungen? Das ist schön und gut, aber das lässt sich kaum als Hoffnung bezeichnen – höchstens als Zweckoptimismus, dessen Ausgangspunkt die Akzeptanz des bestehenden Schulsystems ist. Denn bei aller Kritik, die die Protagonist_innen in „Zwischen den Stühlen“ an diesem System äußern, wird deutlich: Solange sie systemkonform geäußert wird, verpufft ihre Wirkung. Entlarvend sind in diesem Zusammenhang auch die Filmszenen, in denen Ralf mit seinen Schüler_innen den Roman „Unterm Rad“ von Hermann Hesse im Unterricht bespricht. Von außen betrachtet wirkt es geradezu absurd, dass ein Buch, das mit Kritik am schulischen Leistungsdruck durchzogen ist, nun dazu genutzt wird, diesen Druck weiterhin auf Schüler_innen auszuüben. Aber es wirkt eben nur von außen betrachtet absurd. Innerhalb des Systems funktioniert es.

Daraus erschließt sich die größte Gefahr der Filmrezeption: „Zwischen den Stühlen“ funktioniert auch für solche Zuschauer_innen, deren Kritik am Bildungssystem sich in den Grenzen des Bestehenden bewegt. Denn dadurch, dass ein Großteil des Publikums Teil des schulischen Systems war oder ist, fällt ihm eine Außenansicht tendenziell schwer – obwohl der Film eine solche immer wieder anbietet. Allein schon durch die Darstellung eines Systems, das ausnahmslos alle darin Agierenden unter Druck setzt, sollte sich bei den Zuschauer_innen die Frage aufdrängen, inwiefern das System selbst das Problem ist. Die Antwort darauf kann nur radikal ausfallen.

Dass dem Film ein so eine starke politische Wirkung nicht zugetraut wird, zeigt jedoch schon die Tatsache, dass der Dreh vom Bundesministerium für Bildung und Forschung unterstützt wurde. Somit bleibt zu befürchten, dass „Zwischen den Stühlen“ zwar ein gut gemeinter Versuch ist, einen konstruktiven Beitrag zur Bildungsdebatte zu leisten, dass sich die Fundamentalkritik aber in Systemkonformität auflösen wird. Ein erstes klares Anzeichen dafür sind die Unterrichtsmaterialien zum Film, die im Netz zu finden sind: Eine Fragestellung, die das derzeitige Schulsystem grundlegend auf den Prüfstand stellt, sucht man darin vergebens. Stattdessen kann man davon ausgehen, dass es bald einige Schüler_innen geben wird, denen „Zwischen den Stühlen“ nicht wegen seines Inhalts Kopfzerbrechen bereitet, sondern wegen der benoteten Aufgaben, die ihnen ihre Lehrer_innen dazu stellen werden.

Schade. Denn das hat dieser Film nicht verdient.

Michael Feindler 2017

Zu kurz gedacht. Über den Sinn und Unsinn von Bildungsdebatten

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog des Vereins „Was bildet ihr uns ein?“

Bildungsdebatten zu führen kann ungemein frustrierend sein. Viele kritische Auseinandersetzungen sind heutzutage nur noch ernüchternd, sobald man festgestellt hat, sich wieder einmal im Kreis zu drehen – und zwar nicht seit ein paar Stunden, sondern seit mehreren Jahrzehnten. Michael Feindler stört sich insbesondere daran, dass die meisten Debatten in einem höchst beschränkten Rahmen geführt werden, ohne gesamtgesellschaftliche Perspektive. Eine Polemik.

Ich bin es leid. Seit Jahren verschwende ich meine Zeit damit, Diskussionsbeiträge zur Bildungspolitik zu lesen oder anzuhören, nur um später festzustellen: Da hat jemand schon wieder zu kurz gedacht. Warum fällt das den Leuten nicht auf? Zeitungen und Blogs sind voll von Kommentaren, in denen es die Autor_innen nicht schaffen, auch nur ein Stück weit über den Tellerrand hinaus zu schauen. Wenn sie das täten, stellten sie nämlich fest, wie brüchig ihre Argumentationen oftmals sind. Sie stellten auch fest dass das, was sie für Logik halten, nur innerhalb des von ihnen zugrunde gelegten Horizonts funktioniert. Sobald eine gesamtgesellschaftliche Perspektive einbezogen wird, erscheint eine ganze Menge an Debattenbeiträgen nicht nur überflüssig, sondern zudem anti-aufklärerisch. Das mag ein harter Vorwurf sein. Aber ich bekräftige ihn gerne anhand von drei aktuellen Beispielen.

Markt vs. Ideenwettbewerb

In den VDI-Nachrichten, also dem Haus- und Hofmagazin des Verbandes der deutschen Industrie, erschien am 28. August ein bemerkenswerter Artikel, der sich mit einem Urteil des Oberverwaltungsgerichts Münster auseinandersetzte. Das hatte nämlich kurz vorher entschieden, es sei rechtens, den Kooperationsvertrag zwischen dem Pharmakonzern Bayer und der Universität Köln geheim zu halten. Der Autor Hermann Horstkotte verteidigt dieses Urteil in den VDI-Nachrichten und hält die Aufregung der Kritiker_innen für überzogen. Die Freiheit der Wissenschaft sieht er durch Drittmittelgeber aus der Privatwirtschaft nicht besorgniserregend gefährdet. Dazu sei der Prozentsatz nach wie vor zu gering. Außerdem würden die Unternehmen doch Forschung an den Universitäten vorantreiben, die für die Weiterentwicklung der Gesellschaft von Bedeutung sei. Er stimmt offensichtlich Horst Hippler zu, dem Präsidenten der Hochschulrektorenkonferenz, den er mit den Worten zitiert: „wirtschaftliche und wissenschaftliche Wettbewerbsfähigkeit bedingen sich unmittelbar“.

Nun ist es bereits dreist, den Marktwettbewerb zwischen Unternehmen mit dem Ideenwettbewerb zwischen Wissenschaftlern zu vergleichen. Denn das funktioniert nur, wenn man davon ausgeht, dass sich jede wissenschaftliche Erkenntnis letzten Endes auf den potentiellen wirtschaftlichen Gewinn reduzieren lässt, den sie abwirft. So weit sind wir also inzwischen. Da dieses problematische Bild des Wissenschaftsbetriebs aber nicht in Frage gestellt wird, können auch weitere Fragen bequem ausgeblendet werden: Wieso sind die Universitäten überhaupt so stark auf private Geldgeber angewiesen? Warum fehlt es offensichtlich an staatlicher Grundfinanzierung? Heißt das im Endeffekt, dass in Zukunft immer mehr Forschungsprojekte nur dann finanziert werden, wenn es wahrscheinlich ist, dass sich die Produkte daraus auf dem freien Markt behaupten können? Und selbst wenn wir diese Fragen einmal außen vor ließen und es akzeptierten, dass sich Unternehmen in den Universitäten einnisten: Warum soll ein Konzern wie Bayer das Recht haben, die Kooperationsverträge mit einer öffentlichen Bildungseinrichtung geheim zu halten?

Die tiefgreifende politische Frage, die sich im nächsten Schritt stellt, geht weit über die Hochschullandschaft hinaus. Sie betrifft allgemein die Subventionierung finanzstarker Unternehmen. Denn es ist nichts anderes als eine Subventionierung, wenn ein Konzern nicht mehr dazu angehalten wird, sich eigene Forschungseinrichtungen aufzubauen, sondern stattdessen auf die bereits vorhandene Infrastruktur der deutschen Hochschulen zurückgreift, ohne der Öffentlichkeit gegenüber Rechenschaft abzulegen. Jede Forschung, die auch nur zu einem Bruchteil aus Steuergeldern finanziert wird, muss öffentlich zugänglich sein. Das ist man den Bürger_innen schuldig. Wer seine Forschungsergebnisse geheim halten möchte, darf das so lange tun, wie er selbst für die komplette Finanzierung eines Projektes aufkommt.

Keine Erpressung der Gesellschaft durch die Privatwirtschaft

Es ist fatal, wenn wir uns als Gesellschaft von der Privatwirtschaft erpressen lassen und glauben, dass es uns insgesamt besser ginge, wenn wir deren Treiben auch noch indirekt subventionieren. Zumal es eindeutig nicht im Sinne des Grundgesetzes ist, mit marktwirtschaftlichen Wettbewerbsvorteilen zu argumentieren. Das Bundesverfassungsgericht stellte bereits am 1. März 1978 in einem Beschluss zum Hessischen Universitätsgesetz fest, dass „gerade eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen befreite Wissenschaft dem Staat und der Gesellschaft im Ergebnis am besten dient“. Somit verstößt die Geheimhaltung der Kooperationsverträge zwischen Bayer und der Universität Köln sehr wohl gegen die im Grundgesetz zugesicherte Freiheit von Wissenschaft und Forschung. Das müsste dringend thematisiert werden, auch in den VDI-Nachrichten. Alles andere dümpelt an der Oberfläche.

Ähnlich oberflächlich behandelt Martin Butzlaff, Präsident der Universität Witten/Herdecke, das leidige Thema Studiengebühren in der Süddeutschen Zeitung vom 5. September. Eigentlich dachte man ja, die Sache habe sich in Deutschland erledigt, nachdem einige Bundesländer die Gebühren erst eingeführt und nach diversen politischen Auseinandersetzungen – auch mit der eigenen Bevölkerung – nach und nach wieder abgeschafft hatten. Butzlaff sieht das anders. Worauf er hinaus will, macht er bereits im Titel deutlich: „Gebühren müssen sein“ (auf Sueddeutsche.de heißt das Machwerk „Mut zu Gebühren“). Und gleich darunter heißt es: „Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, Studierende an den Kosten ihres Studiums zu beteiligen“. Nein, das ist es nicht. Denn die im Artikel näher erläuterte Feststellung, es würden dringend mehr Gelder im Bildungssystem benötigt, zieht nicht zwingend den Schluss nach sich, es müssten wieder Studiengebühren eingeführt werden, wie der Autor behauptet.

Das leidige Thema Studiengebühren

Aber der Reihe nach: Selbstverständlich hat Butzlaff völlig Recht, wenn er schreibt: „Wären ausschließlich individueller Bildungszuwachs und Chancengerechtigkeit für Kinder, Schüler und Studierende die Kriterien der Bildungsfinanzierung, so wären die Konsequenzen eindeutig: Wir würden kostenfreie Kitas bauen; wir würden in bessere (Ganztags-)Schulen investieren; wir würden mehr Lehrer_innen in kleineren Klassen einstellen; wir würden gezielt die Bildungschancen von Migrationskindern verbessern“. Es ist ebenfalls korrekt, wenn er anmerkt, dass es wichtig sei, vor allem den frühen Bildungsweg von Menschen zu fördern. Mit jeder zusätzlichen Unterstützung in diesem Bereich wachse die Chance, die Persönlichkeitsentwicklung von Kindern entscheidend voranzubringen. Soweit so gut. Daraus dann aber zu schlussfolgern, die Studierenden sollten mit Gebühren an der Finanzierung der Hochschulen beteiligt werden, weil es oberste Priorität habe, dass die verfügbaren Gelder im Bildungsbereich zunächst in Kitas und Schulen investiert werden, verkennt die politische Realität.

Denn zum einen verhindern schon die unterschiedlichen Finanzierungsquellen (Kommunen, Länder, Bund) und ihre jeweiligen Zuständigkeiten, dass Geld, das in einem Bereich gespart wird, ohne Weiteres für einen anderen genutzt werden kann. Zum anderen passiert es erfahrungsgemäß in der politischen Auseinandersetzung fast nie, dass Geld einfach „übrig“ ist. Wenn dem so wäre, würde sich nämlich an Schulen mit sinkenden Einschulungszahlen das Problem mit den großen Klassen und den wenigen Lehrer_innen im Laufe der Jahre automatisch lösen. Tut es aber nicht. Vielmehr ist die sinkende Zahl an Schüler_innen normalerweise ein willkommener Anlass für finanzielle Kürzungen. Aus demselben Grund ist es naiv zu glauben, den Universitäten stünde langfristig eine angemessene Menge an Geld zur Verfügung, wenn nur die Studierenden ihren Teil dazu beitrügen. Es steht eher zu befürchten, dass etwaige Gebühren eines Tages als Rechtfertigung dafür herhalten müssten, die staatliche Grundfinanzierung weiter zu kürzen.

Butzlaff schließt jedoch mit einem noch hanebücheneren Argument – er plädiert an die Eigenverantwortung junger Menschen: Mit der Zahlung von Studiengebühren täten Studierende „das, was wir im späteren Leben ohnehin von ihnen erwarten: Sie übernehmen persönliche und gesellschaftliche Verantwortung“. Das könne man ihnen durchaus zumuten, „besonders, wenn dieser Beitrag nachgelagert erfolgen kann, wenn also erst und auch nur dann gezahlt zu werden braucht, wenn das Studium zu einem entsprechenden Einkommen geführt hat“. An dieser Stelle wird die Beschränktheit der Argumentation besonders deutlich: Sähe man die Bildung von Menschen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe und nicht als eigenverantwortliche, persönliche Bereicherung jedes und jeder Einzelnen, wäre völlig klar, dass finanzielle Engpässe über eine radikale Steuerreform gelöst werden müssten. Es steht außer Frage, dass Akademiker_innen durchschnittlich ein höheres Gehalt beziehen als die arbeitende Bevölkerung in Ausbildungsberufen. Deshalb ist es richtig, dass Menschen, die später vergleichsweise viel verdienen, auch stärker an Bildungsinvestitionen beteiligt werden sollten – aber nicht, indem sie ausschließlich ihr eigenes Studium (nachgelagert) bezahlen, sondern indem sie auf ihre durchschnittlich höheren Gehälter auch höhere Steuern zahlen, die dann wiederum zielgerichtet in den Ausbau der Hochschulen gesteckt werden können. Bevor also jemand wie Martin Butzlaff lautstark nach Studiengebühren ruft, sollte er erst einmal eine Reichensteuer fordern.

Chance Ausbildung?

An die großen gesellschaftlichen Fragen traut sich genauso wenig George Turner heran. Der ehemalige Wissenschaftssenator von Berlin schreibt in einer Kolumne für den Tagesspiegel am 24. August, man müsse der „Ausbildung eine Chance geben“. Es sei ein Problem, dass immer mehr junge Menschen an die Universitäten strömten und dadurch aber der Nachschub bei den Auszubildenden fehle. Turner sieht es skeptisch, dass es Überlegungen gibt, von Jahr zu Jahr mehr Studienplätze in Deutschland zur Verfügung zu stellen, damit möglichst alle, die ein Studium aufnehmen möchten, dies auch tun können. Sein Gegenvorschlag: Abiturienten sollten in der Schule darauf vorbereitet werden, nach Erwerb der allgemeinen Hochschulreife vielleicht doch lieber eine Ausbildung zu beginnen. Schließlich gebe es immer mehr Berufe in diesem Bereich, für die eine höhere Qualifikation, sprich ein Abitur, nötig sei. Von dem Anspruchsdenken, man habe mit dem Abschluss der Oberstufe ein Recht auf einen Studienplatz, hält Turner ganz offensichtlich nicht viel. Denn so etwas sei doch „eine Privilegierung einer Gruppe, nämlich derjenigen, die bereits den Vorzug genossen haben, eine höhere Schule zu besuchen“.

Interessanterweise spricht der Wissenschaftssenator a. D. selbst das Problem von Privilegierten im deutschen Bildungssystem an, identifiziert es jedoch nicht als Wurzel weiterer Probleme. Stattdessen pocht er nur darauf, den Übervorteilten nicht noch mehr Privilegien zuzugestehen. Bei Turner liest sich das beinahe schon wie ein Vorwurf an Abiturienten, die so dreist seien, einen höheren Schulabschluss zu machen, und danach den Hals nicht voll genug bekämen. Daraus leitet sich der größte Widerspruch seines Kommentars ab: Einerseits möchte er hervorheben, wie wichtig es sei, den Wert der Ausbildung wieder schätzen zu lernen – andererseits räumt er indirekt ein, dass ein Studium grundsätzlich höher angesehen wird, wenn er davon ausgeht, dass es die ohnehin schon Privilegierten noch weiter privilegiert.

Weil er diesen Widerspruch jedoch nicht erkennt oder ihn beflissentlich ignoriert, sieht er die von ihm beschriebenen Schwierigkeiten im Bildungssystem nicht als Symptome grundsätzlich problematischer Strukturen. In einer Gesellschaft, in der sich die Mittelschicht immer mehr von Abstiegsängsten getrieben fühlt, in der ein Konkurrenzklima in der Bevölkerung die Unterteilung in „Gewinner“ und „Verlierer“ fördert, ist es nur verständlich, wenn immer mehr Menschen glauben, sich mit einem Studium finanziell besser absichern zu können. Und selbst Abstiegsängste und Wettbewerbsverhalten sind nur Symptome. Die Ursachen findet man in der Arbeits- und Sozialpolitik der vergangenen Jahre. Ohne den Ausbau eines Niedriglohnsektors (der dank Mindestlohn-Ausnahmen weiterhin besteht) und den einschneidenden Hartz-IV-Reformen wäre es für junge Menschen heute womöglich attraktiver, eine Ausbildung zu beginnen. Letztendlich kann man ihnen deshalb kaum einen Vorwurf machen. Aber wie Martin Butzlaff auch, bezieht sich George Turner in erster Linie auf die Individuen im Bildungssystem, nicht auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, auf die diese Individuen mit ihren Entscheidungen reagieren.

Aus den drei angeführten Beispielen ergibt sich kein einziger nachhaltiger Lösungsansatz für die Zukunft des Bildungssystems. Stattdessen schaden die in den Artikeln wiedergegebenen Sichtweisen der gesamtgesellschaftlichen Debatte, indem der Eindruck erweckt wird, die thematisierten Probleme ließen sich innerhalb der Kitas, Schulen und Universitäten lösen. Dieser Eindruck ist jedoch schlicht falsch. Bildungssystem und Gesellschaft lassen sich nie getrennt voneinander betrachten – erst recht, wenn man bedenkt, dass die Bildungseinrichtungen von heute die Gesellschaftsgestalter_innen von morgen hervorbringen. Fast meint man, es sei Absicht, die aufklärerischen Aspekte aus den Diskussionen herauszuhalten, statt im Sinne einer kritischen Reflexion durchschimmern zu lassen, dass die herrschenden Verhältnisse im Bildungssystem – und die dahinterstehenden gesellschaftlichen Strukturen – in Frage gestellt werden könnten.

Am Ende aber hängt alles miteinander zusammen. Es führt kein Weg daran vorbei, in letzter Konsequenz die Systemfrage zu stellen: In was für einer Gesellschaft wollen wir leben und mit welcher Bildung erreichen wir dieses Ziel?

Michael Feindler 2015

Mehr Merkel wagen!

Eine Polemik zwischen Satire und Ernst.

Es sind keine leichten Zeiten für SPD-Anhänger. Kaum eine Woche vergeht, in der nicht irgendein Parteifunktionär eine Äußerung vom Stapel lässt, die soziale Grundwerte der Partei in Frage stellt. Meinungsverschiedenheiten zwischen der Bundes-SPD und der Union scheint es kaum mehr zu geben: Der Vizekanzler winkt das Freihandelsabkommen TTIP durch, der Justizminister schreitet nicht ein, wenn gegen ein investigatives Weblog wegen Landesverrats ermittelt wird und ein Ministerpräsident äußert freimütig, man könne auf einen sozialdemokratischen Kanzlerkandidaten bei der nächsten Bundestagswahl ruhig verzichten, denn Angela Merkel mache das doch „ganz ausgezeichnet“. Damit wächst die Wahrscheinlichkeit, dass die SPD in Umfragen weitere Prozentpunkte einbüßen und die CDU/CSU-Fraktion in zwei Jahren die absolute Mehrheit im Bundestag erhalten wird. Das kann man mit Schrecken lesen – oder als Hoffnungsschimmer begreifen. Denn möglicherweise ist „mehr Merkel“ nicht das Problem, sondern die einzige realistische Lösung für die Rückbesinnung von SPD und Grünen auf eine wirklich soziale Politik.

Der Rückhalt der Bundeskanzlerin in der Bevölkerung scheint ungebrochen. In Umfragen erhält die CDU/CSU-Fraktion regelmäßig stabile Werte über 40 Prozent. Die SPD hingegen dümpelt bei etwas über 20 Prozent herum, während Linke und Grüne bei Werten um die zehn Prozent landen. AfD und FDP kämen, laut aktuellem ARD-Deutschlandtrend, nach wie vor nicht oder nur knapp in den Bundestag. Eine absolute Mehrheit für Schwarz rückt in greifbare Nähe. Dabei ist es vor allem der Popularität Angela Merkels zu verdanken, dass die Union in den vergangenen zehn Jahren keine Prozentpunkte eingebüßt, sondern in Umfragen sogar noch zugelegt hat. Über die Parteigrenzen hinweg genießt die Kanzlerin das Ansehen der besonnenen, abwägenden Politikerin, die auch klare Kante zeigen kann, wenn es (angeblich) darauf ankommt. Wenn sie persönlich keine harte Linie vorgibt, so lässt sie immerhin diejenigen aus ihrer Fraktion unbehelligt agieren, die sich gerne eines aggressiveren und durchgreifenden Vokabulars bedienen. Insbesondere das Duo Merkel-Schäuble hat mit dieser Strategie Erflog.

Aber das System Merkel funktioniert nicht allein durch die Art, wie die Bundeskanzlerin auftritt. Es fußt vor allem darauf, dass sie es schafft, dem Wahlvolk das Gefühl zu vermitteln, sie mache die bestmögliche Politik für dieses Land – und zwar „bestmöglich“ im Wortsinne: Sie gibt vor, im Rahmen der politischen Möglichkeiten ihr Bestes zu tun. Auf die Weise ist sie längst zur Verkörperung der Alternativlosigkeit geworden, von der sie seit Beginn ihrer Amtszeit wiederholt gesprochen hat.

Nun kann man natürlich behaupten, dass auch eine Angela Merkel so viel von Alternativlosigkeiten reden kann wie sie will – letztendlich müsste sie über demokratische Grundregeln stolpern. Denn die besagen, dass unser Parteiensystem auf einen Wettbewerb von Ideen ausgerichtet ist, in dem unterschiedliche politische Konzepte miteinander konkurrieren und es so etwas wie „Alternativlosigkeit“ deshalb gar nicht geben kann. Schließlich sollen Parteien in einer pluralistischen Gesellschaft die Haltungen zu politischen Themenkomplexen bündeln, um einen repräsentativen Diskurs zu führen, der zur Meinungsbildung der Wählerinnen und Wähler beiträgt. So sähe zumindest der Idealfall aus. Was aber, wenn sich ein Großteil der im Bundestag vertretenen Parteien diesem Ideenwettbewerb weitgehend verweigert?

Das ist nämlich der zweite – und vermutlich wichtigere – Punkt, weshalb das System Merkel funktioniert: Sowohl die SPD- als auch die Grünen-Fraktion bestätigen mit ihren Reden und ihrem Abstimmungsverhalten, dass die Bundeskanzlerin die bestmögliche Politik macht. Sie versuchen nicht einmal, der Union eine klar erkennbare Alternative entgegenzusetzen, und überlassen diese Aufgabe allein der Linkspartei. Was bei der SPD bereits armselig wirkt, aber wenigstens noch ein Stückweit nachvollziehbar ist, da sie einen Teil des Merkel-Kabinetts stellt, verkommt bei den Grünen endgültig zur Bankrotterklärung: Die Bundestagsfraktion scheint nicht ansatzweise ein Interesse daran zu haben, ein klares Oppositionsprofil zu entwickeln.

So haben sich die Anhänger von SPD und Grünen in den vergangenen Monaten manches von ihren Parteispitzen anhören müssen, was vor einigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Vorratsdatenspeicherung, Tarifeinheitsgesetz und herablassende Äußerungen gegenüber der griechischen Syriza-Regierung sind nur drei Stichworte, die die kritische Basis der SPD zusammenzucken lassen, während sich die Jugendorganisation der Grünen weiterhin gegen die Aussage wehren muss, ihre Mutterpartei sei angeblich nie pazifistisch gewesen. Die Bundesvorstände von SPD und Grünen bleiben weiterhin fest in den Händen derjenigen, die sich kooperationswillig gegenüber der Union zeigen. Gedankenspiele zu einer rot-rot-grünen Koalition auf Bundesebene bleiben genau das: Gedankenspiele. An den Parteispitzen ist der Wille zum politischen Kurswechsel nicht erkennbar. Wozu auch? Die SPD hat es sich mit ihren Ministern in der großen Koalition bequem eingerichtet und die Grünen liebäugeln bereits mit einem schwarz-grünen Bündnis. Es scheint in beiden Parteien Konsens zu sein, dass man die Union braucht, um Regierungsverantwortung zu übernehmen. Anders lässt sich die permanente Anbiederung an den Merkel-Kurs nicht erklären. Es geht also wieder einmal ganz plump um Machterhalt bzw. im Falle der Grünen um eine Machtoption bei der nächsten Bundestagswahl.

Genau dort können und sollten wir ansetzen, wenn wir die Politik in diesem Land langfristig verändern wollen: Wir müssen SPD und Grüne jeder Machtoption auf Bundesebene berauben. Denn erst die Erkenntnis, dass Angela Merkel keinen Koalitionspartner mehr zum Regieren benötigt, wird zu einem Umdenken innerhalb der beiden Parteien führen. Wir müssen SPD und Grüne de facto in die Opposition zwingen – und zwar in eine Opposition, in der eine Machtoption nur dann wieder besteht, wenn man sich als überzeugende Alternative zur Union präsentiert.
Wer jetzt noch auf ein Aufbegehren der linken Flügel und einen Umsturz an den derzeitigen Spitzen hofft, überschätzt sowohl die Basis der SPD als auch die der Grünen. Möglichkeiten zu innerparteilichen Veränderungen hätte es in den vergangenen Jahren immer wieder gegeben. Darauf würde ich ehrlich gesagt nicht mehr setzen. Und selbst wenn es in einer der beiden Parteien gelingen würde, den politischen Kurs zu ändern: Was wäre damit gewonnen? Solange auch nur eine Partei als williger Koalitionspartner für Angela Merkel bereitstünde, bliebe die Ausgangslage die gleiche. Deshalb – und ich möchte betonen, dass es meinen politischen Überzeugungen zutiefst widerspricht, diese Empfehlung abzugeben – sollten alle, die langfristig an einer politischen Alternative interessiert sind, daran mitwirken, der Union bei der nächsten Bundestagswahl zur absoluten Mehrheit zu verhelfen.

Kritiker dieser Idee mögen jetzt einwerfen, dass der Preis, nämlich vier Jahre Angela Merkel ohne Koalitionspartner durchregieren zu lassen, viel zu hoch dafür wäre. Wäre es da nicht erträglicher, entweder die SPD oder die Grünen als minimales Korrektiv mit in der Regierung sitzen zu haben? Dieses Argument zieht aus zwei Gründen nicht:
Zum einen hat die SPD seit der Agenda 2010 so ziemlich jeden ihrer sozialen Werte verraten und eine Politik zugunsten einer finanziell gut ausgestatteten Wählerschicht betrieben, wie man das sonst nur von der Union kannte. Den kärglichen Mindestlohn von 8,50 Euro mit seinen ganzen Ausnahmen als großen Erfolg der SPD zu feiern, ist eindeutig Schönfärberei und kann nicht darüber hinwegtäuschen, wie die Partei gerade mit dem Beschluss des Tarifeinheitsgesetzes gegen Gewerkschafter agiert hat, deren Interessen sie früher entschieden vertrat. Die Grünen sind für Menschen, die aus der Friedensbewegung kommen, eine einzige Enttäuschung. Zudem sollte bedacht werden, dass auch diese Partei die Agenda 2010 als Teil der damaligen Regierung mitgetragen und sich nie klar davon distanziert hat. Eine politische Alternative sieht anders aus.
Das zweite Argument, das ich gegen meine Kritiker ins Feld führen möchte, lautet: Merkel wird es mit einer absoluten Mehrheit nicht gelingen, wichtige politische Beschlüsse widerstandslos durchs Parlament zu bekommen. Es dürfte für sie voraussichtlich sogar schwieriger werden als zu Zeiten der großen Koalition. Denn der Bundesrat wird bereits heute von SPD, Grünen und Linken dominiert. Dass diese Dominanz mit einer schwarzen Regierung auf Bundesebene endet, ist höchst unwahrscheinlich. Jahrzehntelange Erfahrungen aus den Bundestagswahlen belegen den Trend, dass der Stimmenanteil der Parteien, die auf Bundesebene in der Opposition sind, im Bundesrat mit fortschreitender Regierungszeit weiter ansteigt. Viele Gesetzesvorhaben von Merkel könnten damit blockiert werden – und zwar von einer Opposition, die diesen Namen auch verdient.

Aus diesem Grund sollten alle Bürgerinnen und Bürger, die langfristig an einer linken politischen Alternative in Deutschland interessiert sind, ernsthaft in Erwägung ziehen, bei der kommenden Bundestagswahl Angela Merkel zu unterstützen und der Union zur absoluten Mehrheit zu verhelfen: Denn nur so werden SPD und Grüne gezwungen sein, ein klares Profil als Oppositionsparteien zu entwickeln. Nur so wird der Leidensdruck auf die Parteimitglieder soweit ansteigen, dass ein Sturz der jetzigen Parteispitzen unabwendbar wird. Und nur so werden sich SPD und Grüne wieder als politische Alternative zum Merkel-Kurs präsentieren. Dann werden wir im Deutschen Bundestag endlich wieder eine starke Opposition haben, bestehend aus drei Parteien, die darauf warten, die Union bei der Wahl darauf in ihrer Regierungsverantwortung abzulösen. Wann immer wir also in den kommenden Tagen Umfragen lesen, nach denen Angela Merkel mit ihrer Union die absolute Mehrheit erhielte – lasst es uns als Chance begreifen! Wir sollten mehr Merkel wagen! Denn mehr Merkel bedeutet auch mehr Opposition!

Michael Feindler 2015

Von der Relevanz des Nischendaseins

Dieser Artikel erschien zuerst auf dem Blog des Vereins „Was bildet ihr uns ein?“

Unter der Überschrift „Deutschland braucht mehr Expertise“ kommentierte Jarina Kajafa in der taz vom 24.07.2015 das bevorstehende Aus des Ukrainistik-Lehrstuhls an der Universität Greifswald. Michael Feindler unterstützt ihr Anliegen, den Lehrstuhl zu erhalten, findet jedoch, dass die Argumentation zu kurz greift.

„Seit einem Jahr tobt mitten in Europa ein Krieg“, beginnt Jarina Kajafa ihren Kommentar. „Jeden Tag sterben in der Ukraine Menschen. Auch die Sprachlosigkeit des Westens ist dafür verantwortlich.“ Von dieser politischen Sprachlosigkeit spannt sie den Bogen zur – bald wörtlich zu nehmenden – Sprachlosigkeit am Lehrstuhl für Ukrainistik in Greifswald. Die Professur an der philosophischen Fakultät steht auf der Kippe. Grund dafür sind „Sparzwänge“, wie es aus dem Dekanat heißt. Zwar soll die Professur nicht gleich endgültig gestrichen werden, doch allen Beteiligten dürfte klar sein, was es bedeutet, wenn sie zunächst für zehn Jahre auf Eis gelegt wird, wie es ein erster Beschluss vorsieht. Dass die Ukrainistik dann noch einmal ein Comeback in Greifswald feiern wird, darf zu Recht bezweifelt werden. Aber ist es bei der Verteidigung einer Professur sinnvoll, an erster Stelle die aktuelle politische Situation anzuführen? Oder sollte die Ukrainistik nicht vielmehr als Fallbeispiel für Nischenfächer im Allgemeinen gesehen werden, unabhängig von der akuten Relevanz?

Der Lehrstuhl ist der einzige seiner Art in ganz Deutschland. Damit gehört er zu den sogenannten „Orchideenfächern“, die kaum Studierende anziehen und seit Jahren in der Bedeutungslosigkeit zu versinken drohen. Gemessen an den Studierendenzahlen (Ukrainisch-Kurse finden oftmals mit weniger als zehn Teilnehmenden statt) wirkt die Ukrainistik tatsächlich wenig bedeutsam. Dabei hat sich der Lehrstuhl in den vergangenen Jahren über Deutschlands Grenzen hinaus einen guten Ruf erarbeitet – unter anderem durch die ukrainische Sommerschule, die Studierende und Wissenschaftler_innen aus den USA und Europa miteinander vernetzte. Daneben schätzen auch außerakademische Kreise die Ukrainistik in Greifswald. Sie ist längst zur Anlaufstelle für politische Initiativen sowie für Verlage auf der Suche nach Übersetzer_innen geworden. Das ändert jedoch nichts an der Außenseiterrolle der Ukrainistik innerhalb der philosophischen Fakultät.

Was rechtfertigt die Schließung eines Studiengangs?

Das Aus für den Lehrstuhl ist noch nicht final beschlossen. Denn zunächst hat ein Veto der Studierenden im Fakultätsrat die Entscheidung über die Zukunft der Ukrainistik bis zum Herbst aufschieben können. Dass sich bis dahin die Ausgangslage grundlegend ändert, ist fraglich. Vermutlich werden sich noch einige kritische Stimmen zu Wort melden, die – wie Jarina Kajafa in der taz – mit der politischen Krise und dem Krieg in der Ukraine argumentieren werden, um für den Erhalt der Ukrainistik an der Universität Greifswald zu plädieren. Aber diese Argumentation greift zu kurz. Was wäre denn, wenn die gesellschaftliche Lage in der Ukraine zur Zeit stabil wäre? Wenn sie in den vergangenen Monaten nicht zu den viel besprochenen Krisenherden innerhalb Europas gezählt hätte?

Im Umgang mit Orchideenfächern erliegt die universitäre Welt leider allzu häufig der kapitalistischen Verwertungslogik: Jedes Fach soll einen konkreten und vor allem messbaren Nutzen für die Gesellschaft haben. Ist das nicht der Fall, scheint es berechtigt, seine Existenz in Frage zu stellen.

Selbstverständlich zeugt es von wenig Fingerspitzengefühl, gerade jetzt die Professur für Ukrainistik in Greifswald auf Eis legen zu wollen. Trotzdem sollten die Kritiker_innen dieses Vorgangs vorsichtig sein, mit dem Hinweis auf die aktuelle politische Krise zu argumentieren. Denn das bedeutet im Umkehrschluss, dass es legitim wäre, weitere Orchideenfächer aus der Hochschullandschaft zu entfernen, deren Nutzen für Wissenschaft und Gesellschaft nicht sofort ersichtlich oder absehbar ist.

Kleine Fächer sind wichtig

Bildung aber gewinnt ihren Wert gerade in der Breite: Als Gesellschaft brauchen wir möglichst viele unterschiedliche Perspektiven auf die Welt, da jede Wissenschaft für sich allein genommen nur ein sehr beschränktes Bild von der Realität zeichnen kann. Erst die Vielfalt führt zu einem gewinnbringenden wissenschaftlichen Diskurs, indem Fehler, die durch eine begrenzte Sichtweise innerhalb einer einzelnen Wissenschaftsdisziplin entstehen, durch andere Aspekte und Ansätze relativiert werden können. Deshalb gilt es, jedes Nischenfach zu verteidigen, selbst wenn sich nur eine Handvoll Studierender und eine kleine Forschungscommunity dafür interessieren sollte. Nur so erhalten wir auf Dauer das, was sich Jarina Kajafa vom Erhalt der Ukrainistik an der Universität Greifswald erhofft: „klare Worte, wissenschaftliche Analyse, fachliche Kompetenz“.

Michael Feindler 2015

Nicht die Grenze, sondern die mangelnde Qualität von Satire ist das Problem!

Dieser Text erschien zuerst auf den Nachdenkseiten.

Viel wurde in den vergangenen Wochen über Satire und ihre Grenzen geschrieben. Zuletzt auch von Mohssen Massarrat in einem Gastbeitrag auf den Nachdenkseiten. Vor allem Kurt Tucholsky musste seit Anfang Januar wiederholt für Zitate herhalten: Nach dem Anschlag auf die Redaktion von Charlie Hebdo schien sich jede noch so auflagenschwache Regionalzeitung genötigt zu fühlen, Tucholskys berühmten Text mit den einprägsamen Sätzen „Was darf die Satire? Alles!“* abzudrucken. Seitdem ist diese Aussage von unterschiedlichen Seiten kritisiert worden. Es hieß, man müsse neu über Grenzen von Satire nachdenken, auch in einer Demokratie. Nein, sagt Michael Feindler. Uns sollte jedoch bewusst sein, dass einiges, was da draußen als Satire herumgeistert, den Qualitätsmaßstäben eines Kurt Tucholsky nicht standhält.

Eines ist in der Diskussion um Satire bislang viel zu kurz gekommen: Es gibt eine Menge schlechte Satire! Satire, die nicht einmal die Oberfläche gesellschaftlicher Probleme berührt; Satire, die das lesende oder zuhörende Publikum in seiner Bequemlichkeit bestätigt, statt es aufzurütteln oder zum Weiterdenken zu animieren. Die Anschläge von Paris und Kopenhagen könnten durchaus zu mehr Selbstkritik innerhalb der Satire-, Karikaturen- und Kabarettszene führen – aber nicht, weil es Grenzen der Satire gibt, sondern weil die Grundeinstellung hinter und die Zielsetzung gut gemachter Satire zu oft auf der Strecke bleiben.

Tucholsky schrieb 1919 in seinem viel zitierten Text: „Die Satire beißt, lacht, pfeift und trommelt die große, bunte Landsknechtstrommel gegen alles, was stockt und träge ist.“ Wie leicht passiert es jedoch, dass so genannte „Satiriker“ die Trägheit im Publikum sogar befördern, indem sie bestehende Klischees auswalzen, weiter ins Lächerliche ziehen, ohne die Leser beziehungsweise Zuhörer aus bereits bekannten Denkmustern herauszureißen? Welchen Missstand zeigt denn bitte ein Karikaturist auf, der den Propheten Mohammed mit Sprengstoff im Turban abbildet? Will er damit sagen, dass der Islam eine gewalttätige Religion ist? Wow! Für so eine Aussage genügt ein Blick in die Boulevard-Presse, dazu braucht es keinen Satiriker.
Um mich nicht falsch zu verstehen: Es liegt mir fern, solche Karikaturen verbieten lassen zu wollen. Schließlich ist ein Großteil der Inhalte unserer Unterhaltungsindustrie ähnlich plump. Doch gerade deshalb müssen wir endlich anerkennen, dass auch manche Satire handwerklich einfach schlecht ist. Wir dürfen ihr innerhalb des Unterhaltungssektors keine Sonderrolle einräumen, nur weil sie im Gewand des Kritischen daher kommt – wodurch sie im Übrigen auch dort Intellektualität vortäuschen kann, wo keine vorhanden ist.

Will man eine Satire auf ihre handwerkliche Qualität überprüfen, muss man nach den Beweggründen des Satirikers fragen: Will er wirklich ein gesellschaftliches Problem im Kern treffen? Ist es ihm ein dringendes Bedürfnis, bestimmte Inhalte zu thematisieren? Oder steht doch eher der Wunsch nach Aufmerksamkeit im Vordergrund – der sich sowohl mit Publikumsgefälligkeit als auch mit gezielter Provokation erfüllen lässt? Das idealisierte Bild des Satirikers, wie ihn Tucholsky beschreibt, trifft in der Realität vermutlich auf die wenigsten Vertreter ihrer Art zu. Denn demnach wäre so jemand „ein gekränkter Idealist: er will die Welt gut haben, sie ist schlecht, und nun rennt er gegen das Schlechte an“. Idealismus kommt unter Satirikern zwar durchaus vor, ebenso trifft man ab und an auf das ernst gemeinte Anliegen, einen unterhaltsamen Beitrag zur demokratischen Aufklärungsarbeit leisten zu wollen. Doch erfahrungsgemäß erliegt jeder Berufssatiriker irgendwann einmal der Versuchung, ein bereits vorhandenes Klischee oder Vorurteil zu bedienen. In den besten Kabarettprogrammen gab es schon Witze auf Kosten von Merkels Mundwinkeln, der Körperfülle von Siegmar Gabriel oder der Homosexualität eines Guido Westerwelle.

Solche platten Gags bringen sichere Lacher, aber jedem sollte bewusst sein, dass das nicht die hohe Kunst der Satire ist. Nimmt man nämlich den von Tucholsky betonten idealistischen Geist der Satire ernst, müssen sich Satiriker stets selbst als Teil der Welt verstehen, die sie kritisieren. Sie können per definitionem nicht teilnahmslos kommentieren und karikieren. Denn Idealismus speist sich aus einer persönlichen Betroffenheit, und sei es „nur“ aus der Empathie gegenüber gesellschaftlich unterdrückten Menschengruppen. Will ein Satiriker nun auf Missstände aufmerksam machen, greift er zum gängigen Mittel der Übertreibung. Mit Tucholskys Worten gesprochen: „Die Satire muß übertreiben und ist ihrem tiefsten Wesen nach ungerecht. Sie bläst die Wahrheit auf, damit sie deutlicher wird, und sie kann gar nicht anders arbeiten als nach dem Bibelwort: Es leiden die Gerechten mit den Ungerechten.“ Da steckt alles drin. Nicht zuletzt der Hinweis, dass ein Idealist immer auch mit denen mitfühlt, die er kritisiert. Gute Satire lässt ihn nie unberührt.

Nun ist es natürlich nicht möglich, in jeder Satire die Beweggründe des jeweiligen Künstlers oder der jeweiligen Künstlerin nachzuweisen. Aber zu glauben, eine Karikatur oder eine Kabarettnummer verfolge idealistische, aufklärerische Ansätze, wenn sie inhaltlich kaum übers Stammtischniveau hinaus kommt, wäre doch ziemlich naiv. Im Übrigen ist auch nichts daran auszusetzen, wenn Religion zur Zielscheibe satirischer Kritik wird, im Gegenteil. Der Satiriker als Idealist schlägt sich grundsätzlich auf die Seite der Unterdrückten und muss daher jede Ideologie ins Visier nehmen, die eine irgendwie geartete machtpolitische Rolle spielt – vom Christentum bis zum Neoliberalismus. Um sich aber überzeugend auf die Seite der Unterdrückten schlagen zu können, muss man diese ansatzweise verstehen, ihrer Situation möglichst viel Empathie entgegenbringen. Das mag ein Grund dafür sein, weshalb die beste Satire über Islamismus tendenziell aus islamisch geprägten Ländern kommt.

Dagegen wirkt jede Satire, die weder persönliche Betroffenheit noch ehrlich empfundenes Mitgefühl erahnen lässt, nur herablassend und selbstgerecht. Schlimmstenfalls überträgt sich diese Selbstgerechtigkeit sogar auf das Publikum, das sich damit innerlich vom öffentlichen politischen Diskurs entfernt, sobald es meint, sich selbst von der satirisch geäußerten Kritik ausnehmen zu können. Somit wird der aufklärerische, mündigkeitsfördernde Ansatz der Satire in einer Demokratie pervertiert: das Publikum lacht über Politik und Gesellschaft, ohne seine Verflechtungen als „Souverän“ innerhalb des herrschenden Systems wahrhaben zu wollen. Gleichzeitig wird den Lesern beziehungsweise Zuhörern das Gefühl vermittelt, sie würden gerade besonders politisch und kritisch denken, selbst wenn ausschließlich Ressentiments und Klischees bedient werden, die allen längst bekannt sind. Eine so geartete Satire ist handwerklich nicht nur langweilig, sondern in ihrem Kern demokratiefeindlich.

Die Qualität von Satire bleibt deshalb auch fast hundert Jahre nach der Veröffentlichung von Kurt Tucholskys berühmtem Text von der inhaltlichen Betroffenheit des Satirikers selbst und seines Publikums abhängig. Fragen wir also künftig nicht mehr: Was darf die Satire? Fragen wir lieber häufiger: Ist das gute Satire?

Michael Feindler 2015


* Sämtliche im Text verwendeten Zitate von Kurt Tucholsky sind zitiert nach: Kurt Tucholsky: Gesammelte Werke in 10 Bänden. Herausgegeben von Mary Gerold-Tucholsky und Fritz J. Raddatz. Rowohlt Taschenbuch Verlag GmbH, Reinbek bei Hamburg 1975. Band 2: 1919–1920. S. 42–44

Postdemokratie und Neoliberalismus. Kurze Geschichte einer Symbiose

I. Vertrauen

Ein Bonmot, das dem französischen Revolutionär Georges Danton zugeschrieben wird, besagt, wenn der Tempel der Freiheit fest stehe, werde das Volk ihn zu schmücken wissen. In diesem Satz steckt eine Grundannahme, die als Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie gelten kann: Nicht bloß, dass die Freiheit des Individuums ein garantiertes Gut sein muss, sondern auch, dass es angebracht ist, den Individuen, aus denen sich das Volk zusammensetzt, in der Ausgestaltung der Freiheit zu vertrauen. Das heißt: Die Menschen werden mit der ihnen auferlegten Verantwortung schon umgehen können. Sie werden wissen, was an Richtigem zu tun ist. Und sie werden ihre Freiheit nicht ohne Weiteres missbrauchen.
Das Vertrauen in die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger ist ein zutiefst aufklärerischer Gedanke. Er steckt in jedem Demokratiekonzept. Ohne diese Art Urvertrauen, dass der beste Herrscher über das Volk immer noch das Volk selbst ist, wäre die ganze Idee hinfällig. Natürlich bleiben Probleme trotzdem nicht aus. Wie jede andere Staatsform kann die Demokratie in Krisen geraten. Sie ist ebenso unvollkommen wie es die Bürgerinnen und Bürger eines Staates sind. Aber so umstritten menschliche Entscheidungen auf politischer Ebene oft sein mögen – letztendlich behält Winston Churchill Recht, der in einer Rede vor dem Britischen Unterhaus einmal äußerte, Demokratie sei die schlechteste Staatsform, abgesehen von all den anderen, die bereits ausprobiert wurden.
An der Demokratie an sich werden im so genannten „freien Westen“ normalerweise keine Zweifel geäußert. Dort ist es gesellschaftlicher Konsens, in der bestmöglichen Staatsform zu leben. Daher verwundert es nicht, dass die Behauptung, andere Länder notfalls mit Waffengewalt demokratisieren zu wollen, nicht nur einmal zur Veredelung einer Kriegserklärung genutzt wurde. Demokratie wird somit buchstäblich zum Kampfbegriff. Als Zweck heiligt sie die brutalsten Mittel. Doch unabhängig davon, dass sich der Begriff nach wie vor einer häufigen rhetorischen Verwendung erfreut, verkommt er inzwischen mehr und mehr zur Worthülse. Die Gefahr, dass die Volksherrschaft ausgehöhlt wird, bis von ihrem eigentlichen Kern nichts mehr übrig bleibt, ist innerhalb des westlichen Staatenbündnisses (insbesondere USA und EU) offensichtlich. Denn zur Zeit lässt sich beobachten, wie eine der wichtigsten Grundvoraussetzungen der Demokratie verloren geht: das Vertrauen in die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger.
Zunächst handelt es sich dabei um eine These. Im weiteren Verlauf werde ich diese aber untermauern und versuchen zu erklären, woher die kritische Tendenz kommt. Schließlich zieht sie weitreichende Konsequenzen nach sich. Die Feststellung, dass Vertrauen in die Mündigkeit der Bürgerinnen und Bürger verloren geht, wirft nämlich eine Fragen auf, deren Antwort die Demokratie in ihren Grundfesten erschüttert: Wer oder was genau verliert hier das Vertrauen? Es wird ja kaum das ganze Volk sein, das das Vertrauen in sich selbst verliert – obwohl das eine naheliegende Vermutung wäre, nähme man den Begriff „Demokratie“ beim Wort: Wenn das Volk herrscht und das Vertrauen in dessen Mündigkeit verloren geht, gibt es schließlich – soweit man keine anderen Bezugspunkte außerhalb der Staatsgrenzen sucht – nur die Möglichkeit, dass das Volk an seiner eigenen Mündigkeit zweifelt. Es sei denn, das Volk ist nur bedingt identisch mit den Herrschenden und zwischen den beiden Gruppen befindet sich eine Verständniskluft. Das jedoch widerspräche der Grundidee von Demokratie.

II. Politik

Leider haben die öffentlichen politischen Diskurse in den vergangenen Jahren wiederholt bestätigt, dass die These von einer Kluft zwischen den Herrschenden und dem Volk zumindest teilweise zutrifft. Um nur vier zeitnahe Beispiele zu nennen:

Im Herbst 2010 beschloss die schwarz-gelbe Bundesregierung mit der Kanzlerin Angela Merkel, die Laufzeit der Kernkraftwerke in Deutschland wieder zu verlängern. Die Atomlobby hatte anscheinend ganze Arbeit geleistet, um die unliebsamen Gesetze zum Atomausstieg – wenige Jahre zuvor unter rot-grüner Federführung entstanden – rückgängig zu machen. Für diesen Schritt hätte sich zu jenem Zeitpunkt keine Mehrheit im Volk gefunden. Dass sich letztendlich der demokratische Wille, die Atommeiler möglichst früh vom Netz zu nehmen, durchsetzte, ist einer Naturkatastrophe in Japan und dem daraus resultierenden Kernkraftwerk-Unfall in Fukushima zu ‚verdanken‘. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass sich der Volkswille in diesem Fall keineswegs mit Hilfe gewählter Volksvertreter durchgesetzt hat, sondern unter dem Einfluss ‚höherer Gewalt‘.

Ende 2011, auf einem der vielen Höhepunkte der Eurokrise, kam der griechische Ministerpräsident Giorgos Papandreou auf die Idee, sein Volk darüber abstimmen zu lassen, ob es das finanzielle Hilfspaket, das das Dreierbündnis aus EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds beschlossen hatte, annehmen wolle. Allein die Tatsache, dass der Ministerpräsident eine solche Abstimmung überhaupt in Erwägung zog, ließ Börsenkurse sinken, was wiederum für Panik bei anderen europäischen Staatschefs sorgte, die mahnten, man dürfe „die Märkte“ nicht verunsichern. Wenig später nahm die griechische Regierung das EU-Hilfspaket, das gleichzeitig mit starken finanziellen Einschnitten in die Sozialsysteme Griechenlands verbunden war, ohne vorangegangene Volksabstimmung an. Zu viel Demokratie schien in dieser Situation nur zu schaden.

2013 deckte der Whistleblowler Edward Snowden öffentlichkeitswirksam Spionageaktivitäten des amerikanischen Geheimdienstes NSA im Internet auf, die Zusammenarbeit mit anderen Geheimdiensten wie dem britischen GCHQ und dem deutschen BND eingeschlossen. Über Jahre hatten Konzerne wie Facebook, Google oder auch Telekommunikationsunternehmen die Datensätze ihrer Kunden an die staatlichen Behörden weitergegeben oder die Daten waren auf anderem Wege beschafft worden. Unabhängig von Verdachtsmomenten und ohne juristische Billigung hatten Geheimdienste ihre eigenen Völker ausspioniert. Das allein würde bereits genügen, um zu belegen, dass sich die Herrschenden misstrauisch gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern verhalten. Doch in Deutschland zeigte sich die Kluft noch auf andere Weise: Im Sommer 2013 erklärte der Kanzleramtsminister Ronald Pofalla die Ausspäh-Affäre für beendet. Ins selbe Horn blies der damalige Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich, der nach einer Reise in die USA anmerkte, die Sache sei vom Tisch. Dass das nicht der Fall war, zeigte sich wenige Wochen später, als aufgedeckt wurde, dass das Mobiltelefon der Bundeskanzlerin über einen längeren Zeitraum vom Geheimdienst der USA abgehört worden war. Diese Enthüllungen riefen die deutsche Regierung erneut auf den Plan und mit einem Mal wurden die Vorwürfe ernster genommen – hier waren schließlich nicht mehr nur normale Bürgerinnen und Bürger, sondern die Politiker selbst ins Visier geraten. Die Kluft zwischen Wählern und Gewählten könnte kaum offensichtlicher sein.

Das zeigt auch der Diskurs zu den geplanten Freihandelsabkommen zwischen der EU und den USA beziehungsweise Kanada. Zum einen verlief ein Großteil der bisherigen Verhandlung unter Ausschluss der Öffentlichkeit, zum anderen bestätigt der Blick in bereits bestehende internationale Freihandelsabkommen die Befürchtungen kritischer Beobachter, dass am Ende ein Vertragswerk herauskommen könnte, das die Interessen von Großkonzernen über die demokratischen Instrumente der Bürgerinnen und Bürger stellt. Die Politiker in der EU – sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene – versuchen beschwichtigend zu reagieren, ohne dass dabei konstruktiv auf Bedenken eingegangen würde, von höherer Transparenz während der Verhandlungen ganz zu schweigen. Die Diskrepanz zwischen Volk und Herrschende bleibt bestehen.

Wie konnte es dazu kommen? Warum gerieten die westlichen Demokratien in diese Krise? Woher stammt das Misstrauen gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern? Weshalb gelingt es dem Volk nicht, sich gegen die Herrschenden durchzusetzen, wenn die Staatsform doch angeblich die Macht beim Volke lässt? Ich werde im weiteren Verlauf einen Antwortversuch skizzieren. Dabei stütze ich mich in erster Linie auf die Ausführungen des Politikwissenschaftlers Colin Crouch zum Begriff der Postdemokratie und zum Neoliberalismus. Damit verknüpfe ich die Überlegung, inwiefern die problematischen gesellschaftlichen Entwicklungen nicht allein von Politik- und Wirtschaftseliten vorangetrieben wurden, sondern indirekt auch durch aufklärerisches Gedankengut, das mit dem Versprechen von Freiheit, Selbstverantwortung und Individualismus zu einem zusätzlichen Wegbereiter der Demokratiekrise wurde. Denn obgleich eine Entfremdung zwischen Volk und Herrschenden diagnostiziert werden kann, stehen alle, die auf irgendeine Weise am Konstrukt Demokratie beteiligt sind, in einer Beziehung zueinander. Die Bürgerinnen und Bürger werden sich fragen müssen, ob sie sich nicht – als die Volksherrschaft nach und nach destabilisiert wurde – zu willfährigen Komplizen gemacht haben, indem sie sich von wohlklingenden Versprechungen verführen ließen und sich einem demokratiefeindlichen Menschenbild fügten.

III. Postdemokratie

Um die Krise der Demokratie als eine solche zu sehen, genügt es nicht, einen Blick in Statistiken zu werfen. Dort stößt man nämlich vor allem auf eine Erfolgsgeschichte: Gerade seit Ende des Kalten Krieges und des Zusammenfalls des Ostblocks sind – beinahe kontinuierlich von Jahr zu Jahr – mehr demokratische Staaten auf der Welt zu verzeichnen, zumindest, wenn man das Merkmal ‚freie Wahlen‘ als Maßstab nimmt. Zwar sind sich Statistiker untereinander uneins, unter welchen Bedingungen man Wahlen als wirklich frei bezeichnen kann, aber dass die Zahl der demokratisch verfassten Staaten in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren deutlich zugenommen hat, bestätigen alle. Um die erwähnte Krise ausfindig zu machen, genügt es also nicht, einen Blick auf die internationalen Wahl-Zahlen zu werfen. Stattdessen muss man sich damit befassen, wie die Demokratie von den Bürgerinnen und Bürgern umgesetzt und gelebt wird. Das macht letztendlich den Kern der Idee aus. Aber darum ist es nicht gut bestellt.
Colin Crouch zeichnet in seinem Werk „Postdemokratie“ ein eher besorgniserregendes Bild von der Entwicklung der westlichen Demokratien. Der Elan, der politische Enthusiasmus, der unbedingte Wille zur demokratischen Entwicklung innerhalb des Volkes scheinen zu schwinden. Die Wahlbeteiligung sinkt, die Parteien verlieren Rückhalt und ihre Mitglieder. Möglicherweise fehlt der Gründergeist, vielleicht bräuchte es die Aufbruchsstimmung wie in der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg, als gerade in Europa eine der schwersten politischen Krisen überwunden werden musste. Denn der Lauf der Geschichte belegt, dass die Staatsform der Volksherrschaft gerade dann gute Chancen hatte, die Bürgerinnen und Bürger politisch zu beflügeln, wenn es galt, sie neu aufzubauen. Aber es steht außer Frage, dass es nicht erstrebenswert ist, alle paar Jahrzehnte einen Krieg anzuzetteln und übergangsweise eine Diktatur zu installieren, damit die Bürgerinnen und Bürger das Konzept der Demokratie im Anschluss wieder höher zu schätzen wissen und sich entsprechend ins politische Leben einbringen.
Nun ließe sich argumentieren, dass – wenn wir momentan in einer politischen Krise stecken – die Wahrscheinlichkeit steigen müsste, dass die derzeitigen Demokratie-Probleme zu einem Aufbäumen des Volkskörpers und einem verstärkten Einsatz für die Demokratie führen müssten. Das trifft jedoch nicht zu, weil die Krise weitaus weniger offensichtlich ist. Zudem unterstellt Crouch nicht, dass die demokratischen Institutionen auf ganzer Linie gescheitert sind. Die Politik kehrt nicht in einen vordemokratischen Zustand zurück. Das, was gerade entsteht, wird mit dem relativ neuen Wort „Postdemokratie“ beschrieben. Crouch definiert den Begriff so: Er „bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten“ (Crouch 2008: 10). Dabei handelt es sich um „eine Situation, in der zwar alle Institutionen der Demokratie weiterbestehen – und teilweise sogar gestärkt werden –, aber gleichzeitig die politische Energie aus ihnen entwichen ist“ (Oehmke/Schmitter 2008). Die Demokratie verkommt demnach zur Farce. Denn das, was diese Staatsform eigentlich ausmachen sollte – der politische Aktivismus der Bürgerinnen und Bürger – kommt darin nicht mehr vor. Ein passives Demokratieverständnis erlangt die Oberhand: Das Volk sieht sich selbst immer weniger befugt, politische Veränderungen herbeizuführen, verabschiedet sich von der aktiven Beteiligungsrolle und verlegt sich hauptsächlich darauf, die Regierung zu kritisieren. Politiker sollen zur Verantwortung gezogen und das System transparenter gestaltet werden. Meinungsumfragen erscheinen in diesem Rahmen als eine der wirkungsvollsten Möglichkeiten, um auf die gewählten Volksvertreter Einfluss zu nehmen.
Wenn aber der Fokus darauf liegt, dass die Bürgerinnen und Bürger schon von sich aus die Gesellschaft in „die da oben“ und „wir hier unten“ aufteilen, ohne sich selbst als aktiv handelnden Teil der Politik zu begreifen, wird die Grundidee der Demokratie in Frage gestellt. Crouch plädiert dafür, dass eine funktionierende Demokratie sowohl positive als auch negative Rechte des Volkes braucht. Die positiven heben die Fähigkeit der Bürgerinnen und Bürger hervor, sich am Gemeinwesen zu beteiligen; die negativen sollen das Individuum gegen andere schützen und die Kontrolle politischer Entscheidungsvorgänge ermöglichen. Zur Zeit dominiert das negative Modell, obgleich klar sein müsste, dass es gerade die positiven Rechte sind, welche die kreative Energie der Demokratie ausmachen. Das gesamte Parteiensystem fußt ursprünglich auf diesem Verständnis: Menschen sollen innerhalb einer organisierten Gruppe kollektive Identitäten entwickeln, artikulieren darüber ihre Interessen, die sie dann gebündelt an beziehungsweise in die Politik weiterleiten.

IV. Passivität

Wenn dieses Verständnis jedoch schwindet, verwundert es nicht, wenn den Parteien der Mitgliedernachwuchs fern bleibt. Der Gebrauch von Formulierungen wie „Das ist alternativlos!“ oder die Rede von einer „marktkonformen Demokratie“ schrecken das Volk noch weiter ab und bestätigen bei vielen Bürgerinnen und Bürgern die Meinung, sie hätten ohnehin keinen Einfluss auf die Politik. Das Ergebnis ist das, was im Volksmund mit dem schwammigen Begriff ‚Politikverdrossenheit‘ beschrieben wird. Wahlen werden zum wichtigsten Partizipationsinstrument und die eigentliche Verantwortung wird auf politische Eliten abgeschoben. PR-Profis unterstützen die Wählerinnen und Wähler dabei in ihrer bequemen Zuschauerhaltung, indem der Politzirkus als Event präsentiert wird, gerne in Talkshow-Formaten, in denen die Personalisierung von Politik weiter vorangetrieben wird, statt den Fokus auf Inhalte zu legen. Das hat zur Folge, dass die Bürgerinnen und Bürger ihr Recht, die Herrschenden zu kontrollieren und zu kritisieren, für noch wichtiger erachten als bisher. Wenn etwas nicht nach ihren Vorstellungen läuft, beschweren sie sich, machen bei der nächsten Wahl ihr Kreuz an einer anderen Stelle und sich in Meinungsumfragen bemerkbar. Dieses Verhalten bleibt in den meisten Fällen jedoch oberflächlich, weil es kaum konstruktive Handlungsvorschläge nach sich zieht. Die negativen Rechte sind eben nur ein Teil einer funktionierenden Demokratie. Die positive Interpretation der Volksherrschaft fehlt nach wie vor. Wenn aber die Bürgerinnen und Bürger ihren aktiven Part vernachlässigen, entsteht ein Machtvakuum, das innerhalb kürzester Zeit von Lobbyisten gefüllt wird. Nun wäre es prinzipiell möglich, dass das Volk dies bemerkt und bewusst gegensteuert. Dies geschieht jedoch nicht, solange die Wählerinnen und Wähler meinen, das gegenwärtige Demokratiekonzept sei im Grunde richtig und es ginge in erster Linie darum, die regierenden Politiker zu kontrollieren, wenn im Staat etwas schief läuft. Somit geraten weniger die Lobbyisten und ihre Arbeitgeber ins Visier der Kritik als vielmehr die gewählten Volksvertreter. Das hat zur Folge, dass das Volk im Staatsapparat selbst das eigentliche Problem sieht und verlangt, der Staat möge sich noch weiter aus öffentlichen Angelegenheiten zurückziehen. Das wiederum spielt denjenigen in die Hände, die aus Eigeninteresse schon immer dafür plädierten, der Staat solle sich insbesondere aus ökonomischen Angelegenheiten heraushalten.

Kein Machtvakuum bleibt lange vakant, erst recht nicht im Zeitalter der Globalisierung, in dem internationale Großkonzerne zunehmend an Bedeutung gewinnen. Rhetorisch haben sie leichtes Spiel, wenn sie an den Freiheitsdrang der Menschen appellieren. Niemand möchte schließlich gerne bevormundet werden. Erst recht nicht in einer Demokratie. Das ist das Perfide: Einerseits wird den Bürgerinnen und Bürgern ein Teil ihrer demokratischen Selbstverantwortung genommen, indem die öffentlichen Einrichtungen, in denen die bürgerliche Verantwortung demokratisch eingesetzt werden könnte, in die Defensive gedrängt werden. Gleichzeitig wird an die Selbstverantwortung appelliert und der Staat zum Gegner derselben erklärt. Dass ein demokratischer Staat, der doch per definitionem auf die rege Beteiligung des Volkes angewiesen ist, etwas gegen ein stärkeres Verantwortungsbewusstsein seiner Bürgerinnen und Bürger hat, ist ein Widerspruch, der in der öffentlichen Debatte leider zu selten thematisiert wird. So sieht man den Staat immer wieder als Hauptproblem, während durch die Hintertüren und Hinterzimmer Privilegien für bestimmte Unternehmer eingeführt werden – stets unter dem Deckmantel von neoliberaler Marktwirtschaft und freiem Wettbewerb. Im postdemokratischen Umfeld kann die Saat des Neoliberalismus bestens gedeihen. Oder ist es eher umgekehrt, dass Postdemokratie auf neoliberalem Boden besonders gut wächst?

V. Neoliberalismus

Es gibt unterschiedliche Ansätze, die erklären, warum sich der Neoliberalismus seit den 1980er Jahren im wirtschaftswissenschaftlichen Diskurs als die einflussreichste Ideologie durchgesetzt hat. Die Krise des Keynesianismus im Zuge der Ölkrisen hat sicher ihren Teil dazu beigetragen, aber ein neues politisches Konzept setzt sich nicht allein deshalb durch, weil ein anderes gescheitert ist. Es braucht starke Interessengruppen, die es vertreten und verteidigen. Und idealerweise ist die Seite der Konzeptgegner schwächer. Im Falle des Neoliberalismus war beides gegeben. Einerseits gab es mit finanzstarken Unternehmern aus dem Privatsektor eine einflussreiche Gruppe, die ihren Zugang zu den Schaltstellen der Politik zu nutzen wusste, andererseits profitierte das neoliberale Konzept vom Niedergang der Arbeiterklasse, die mit den Gewerkschaften im Rücken lange die größte Gegnerschaft stellen konnte. Sozialsysteme, Bildung und Infrastruktur Stück für Stück zu privatisieren und in den Markt überzuführen, wäre in Ländern mit mächtigen Gewerkschaften undenkbar gewesen. Aber wenn eine gesellschaftliche Klasse zerfällt und im Anschluss weder identitätsstiftend wirken kann, noch in der Lage ist, der erstarkenden Gegenseite finanziell die Stirn zu bieten, ist der Kampf bereits verloren. Zumal die Befürworter des neoliberalen Konzepts nicht auf ein solidarisches Gruppendenken angewiesen waren. Stattdessen folgten sie dem Leitbild des homo oeconomicus, also dem in den Wirtschaftswissenschaften prominenten theoretischen Konstrukt eines Menschen, der grundsätzlich egoistisch denkt und das ebenfalls allen anderen Menschen unterstellt. In einer Welt, in der der gesellschaftliche Zusammenhalt bröckelt, macht das den Unterschied aus, der darüber entscheidet, wer sich politisch durchsetzt und wer scheitert. Die Idee vom rein egoistisch motivierten Menschen wurde in der öffentlichen Debatte vor allem mit einem Plädoyer für Selbstverantwortung und (ökonomische) Freiheit verbunden – zwei positiv behaftete Werte, die die gesellschaftliche Akzeptanz des homo oeconomicus begünstigten. Auch in diesem Zusammenhang tauchte wiederholt das Bild des bevormundenden Staates auf, der seine Bürgerinnen und Bürger an der freien Entfaltung hindert. Der Neoliberalismus versprach, dem Volk seine verlorene Freiheit zurückzugeben. Aber welche Freiheit genau war damit gemeint? Und vor allem: Freiheit für wen? Wohl kaum für die Menschen, werden Skeptiker sagen. Aber ob es stattdessen um Märkte geht, kann ebenfalls in Frage gestellt werden.

VI. Widersprüche

Zwar ist es eine weit verbreitete Auffassung, der Neoliberalismus setze in erster Linie auf freie Marktwirtschaft, doch Colin Crouch widerspricht dieser Behauptung. Es gehe vor allem um den politischen Einfluss von Großkonzernen. Somit zielen Debatten, die allein um das Verhältnis von Staat und Markt kreisen, am eigentlichen Problem vorbei. Die politische Szenerie wird nicht mehr länger von Auseinandersetzungen, sondern von Vereinbarungen zwischen Staat, Markt und Großkonzernen bestimmt. Die neue dritte Variable bringt Crouch auch deshalb ins Spiel, weil er verdeutlichen will, dass die klare Trennung zwischen Markt und Staat, wie sie im Diskurs oft vorausgesetzt wird, nicht möglich ist. Zum einen ist der Staat die Hauptquelle für Maßnahmen gegen etwaiges Marktversagen, zum anderen ist der Markt auf ein funktionierendes Rechtssystem angewiesen. Vor dem Hintergrund ist die Überlegung, der Markt solle sich von staatlichen Einflüssen befreien und könne ohne diese viel besser existieren, geradezu absurd. Ohne staatliche Rahmenvorgaben gibt es keinen verlässlichen Markt, ohne entsprechende Gesetze und eine durchsetzungsfähige Exekutive hätten Kaufleute nicht die Sicherheit, dass sich Vertragspartner an Vereinbarungen halten. Andererseits wäre eine Trennung von Markt und Staat ab einem bestimmten Punkt wünschenswert, da die Verflechtungen spätestens dann als problematisch einzustufen sind, wenn in einer Demokratie Reichtum mit politischem Einfluss einhergeht.
Betrachten wir nun aber die Rolle der Großkonzerne in der Dreierkonstellation: Diese Art von Unternehmen hat in den vergangenen Jahren stark an Bedeutung gewonnen, vor allem, weil die Konzerne im Extremfall in der Lage sind, einen Markt selbstständig zu beherrschen und zu manipulieren. Hauptmerkmal eines Großkonzerns ist, dass er global operiert, sodass er weniger an bestimmte Nationen gebunden ist und Staaten gegeneinander ausspielen kann, indem er beispielsweise mit Abwanderung und Arbeitsplatzverlusten droht, wenn ihm keine Steuervergünstigungen angeboten werden.
Die daraus resultierende marktbeherrschende Stellung widerspricht bereits der Behauptung, es gehe bei der Durchsetzung neoliberaler Konzepte um die Befreiung der Märkte. Denn einen freien Markt macht – laut Argumentation wirtschaftsliberaler Ökonomen – in erster Linie die Wettbewerbssituation aus. Ein mächtiger internationaler Großkonzern kann kleinere Mitbewerber jedoch problemlos niederkonkurrieren, wodurch die Wettbewerbsmechanismen außer Kraft gesetzt werden. Damit stellt sich automatisch die Frage, was das Ganze aus neoliberaler Sicht bringen soll. Schließlich zieht jetzt nicht mehr das Argument, Wettbewerb sei wichtig und trage deshalb zur Markteffizienz bei, weil es erst im Umfeld von Konkurrenz den Ansporn gebe, die preislich und qualitativ besten Konsumgüter zu produzieren. Diesen inneren Widerspruch lösen die Verfechter des Neoliberalismus, indem sie die Priorität vom Wettbewerb auf die „Konsumentenwohlfahrt“ verschieben. Sie argumentieren, dass ein Großkonzern schon aufgrund seiner schieren Größe in der Lage ist, einen Markt von sich aus effizienter zu gestalten und gezielter auf Kundenwünsche einzugehen. Außerdem zeige die Monopolstellung eines Großkonzerns, dass er sich zuvor im Wettbewerb durchgesetzt habe – und damit sei seine überragende Effizienz bewiesen. Diese Auffassung lässt zu, dass ein Wettbewerb irgendwann sein konsequentes Ende erreicht: Der Stärkste gewinnt.

VII. Bündnisse

Spätestens an dieser Stelle dürfte klar sein, wie wenig es den Neoliberalen um die Aufrechterhaltung einer Konkurrenzsituation geht. Wichtiger sind Machtgewinn und -erhalt, die grundsätzlich mit einer Steigerung des finanziellen Umsatzes einhergehen. Je größer der politische Einfluss, desto höher fallen die Jahresbilanzen aus. So kommt es in der Dreierkonstellation aus Staat, Markt und Großkonzernen zu einem fragwürdigen Bündnis: Staat und Großkonzerne verbünden sich gegen den Markt, der normalerweise einen freien Wettbewerb gewährleisten sollte. Wollte man Machtkonzentration in den Händen weniger Unternehmen verhindern, wäre es hingegen nötig, dass sich der Staat mit dem Markt gegen die Großkonzerne verbündet. Das könnte mit Hilfe kartellrechtlicher Maßnahmen gewährleistet werden, geschieht heutzutage aber immer seltener, weil zu häufig wirtschaftsschädliche Folgen befürchtet werden.
Daher liegt es nahe, dass das dritte mögliche Bündnis ebenfalls genutzt wird: Die Großkonzerne verbünden sich mit dem Markt gegen den Staat. Ist dieser Staat demokratisch verfasst, handelt es sich dabei um nichts Geringeres als einen direkten Angriff auf die Demokratie. Das gängige Instrument ist die Privatisierung des öffentlichen Sektors. Entgegen der landläufigen Meinung ist es hier nicht so, dass der Staat an die Bedingungen des Marktes angepasst wird, sondern an die Bedingungen der Großkonzerne. Und obgleich auch in diesem Bereich viel von Effizienz und Konkurrenzdruck gesprochen wird, haben wir es keineswegs mit einem freien Markt zu tun. Denn es gibt kaum einen sichereren Markt als einen öffentlichen Sektor, der die Grundversorgung der Bürgerinnen und Bürger gewährleisten soll. Lag die Machtkonzentration zuvor in den Händen von Beamten, wird sie nun zugunsten privater Anbieter abgegeben. Da ein gewisses Maß an Grundversorgung im demokratischen Staat aber weiterhin gewährleistet sein soll, wird der öffentliche Sektor – jetzt in der Hand eines Konzerns – weiterhin aus Steuergeldern beziehungsweise von den Bürgerinnen und Bürgern direkt finanziert. Wichtigster Unterschied: der neue Besitzer der öffentlichen Einrichtung arbeitet gewinnorientiert und damit möglicherweise finanziell effizienter.
Unabhängig davon, ob das nun besser oder schlechter ist, müsste es in einer Demokratie aber wenigstens die Möglichkeit geben, diese Frage zu diskutieren. Im Gegensatz dazu beansprucht der Neoliberalismus – wie jede Ideologie – für sich, ein Allheilmittel zu sein. Diskussionen haben keinen Platz. Es gibt nur einen richtigen Weg. Und der ist alternativlos. Mit dieser vor Selbstbewusstsein strotzenden Haltung treten Großkonzerne heute den demokratischen Staaten entgegen. Die Bürgerinnen und Bürger haben das Vertrauen in ihre Regierungen verloren und gehen beinahe schon automatisch davon aus, dass die gewählten Politiker inkompetent sind und Steuergelder völlig ineffizient verschleudern. Ein Volk aber, das nicht mehr auf die eigenen politischen Einflussmöglichkeiten vertraut, identifiziert sich nicht länger mit dem Staat, den es ausmachen sollte. Es verliert sein demokratisches Bewusstsein. Den Politikern, die um das grundsätzliche Misstrauen von Seiten der Bürgerinnen und Bürger wissen, gelingt es ebenfalls nicht, den demokratischen Staat selbstbewusst und überzeugend gegen die Interessen von Großkonzernen zu verteidigen. Ob der Grund dafür in erster Linie eine zu enge Verflechtung mit der Wirtschaft, Lobbyisten-Hörigkeit, Selbstzweifel aufgrund der weit verbreiteten Politikverdrossenheit oder einfach nur ein Mangel an Kreativität und Eigeninitiative ist, sei dahingestellt. Wenden wir uns lieber der Frage zu, wie all diese Entwicklungen ineinandergreifen und was das für die Zukunft der Demokratie bedeutet.

VIII. Weiter

Fügt man die Teile der oben dargelegten Argumentation zusammen, scheint sich ein stimmiges Bild zu ergeben, in dem die einzelnen Aspekte logisch miteinander verknüpft sind:

Dank Neoliberalismus hat sich das Leitbild vom homo oeconomicus in unserer Gesellschaft endgültig durchsetzen können.
Begünstigt wurde das von einer positiv wahrgenommenen Freiheits- und Selbstverantwortungs-Rhetorik.
Mit dem Niedergang der Arbeiterklasse sank parallel der solidarische Zusammenhalt innerhalb der Gesellschaft, was das Leitbild des rein egoistisch motivierten homo oeconomicus weiter begünstigte.
Mit dem Fokus auf der Selbstverantwortung entfernten sich die Bürgerinnen und Bürger gedanklich immer mehr vom Engagement für das Gemeinwesen.
Die demokratischen Institutionen blieben weiterhin bestehen und erfüllten nach wie vor ihre Funktionen, wenn auch mit sinkender Unterstützung aus der Bevölkerung.
Der Neoliberalismus suggerierte, klare Lösungskonzepte für staatliche Probleme bereitzuhalten und nährte gleichzeitig den Zweifel an der Inkompetenz gewählter Regierungen – auch bei den Politikern selbst.
Das Misstrauen der Bürgerinnen und Bürger gegenüber ihren gewählten Volksvertretern wurde größer, sie sahen sich zudem selbst immer weniger in der politischen Verantwortung.
Forderungen nach einem Rückzug des Staates mehrten sich, der Neoliberalismus trat seinen Siegeszug in Form von Privatisierungen im öffentlichen Sektor an.
Das Vertrauen in die Mündigkeit des Volkes und der Politiker wurde nach und nach zerstört.

Ich behaupte nicht, dass die soeben aufgezählten Schritte die demokratische Entwicklung in den westlichen Staaten hinreichend zusammenfassen. Sie sind vielmehr die überspitzte Verkürzung eines Erklärungsversuchs, der keinerlei Anspruch auf Vollständigkeit erhebt. Das soll er in diesem Rahmen auch gar nicht. Er kann höchstens einen Denkanstoß liefern, die derzeitige Krise der Demokratie aufmerksam weiterzuverfolgen und die Zusammenhänge im Blick zu behalten.
Weder das Phänomen der Postdemokratie, noch die Ideologie des Neoliberalismus existiert unabhängig vom jeweils anderen. Ebenso wenig lässt sich heutzutage das Leitbild des egoistischen homo oeconomicus strikt vom Rückzug entpolitisierter Menschen in den privaten Individualismus trennen. Machen wir uns bewusst, dass es hierbei wechselseitige Wirkungen gibt, bleibt ein Rest Hoffnung, dass auch wir als Bürgerinnen und Bürger noch einen Einfluss auf die politische Entwicklung haben, und zwar jenseits der Wahlurne. Das Vertrauen in die Demokratie beginnt mit dem Vertrauen in unsere eigene Mündigkeit. Und wenn wir jenes von Seiten der Herrschenden schon nicht erwarten, müssen wir es uns wenigstens selbst überzeugend entgegenbringen können. Vielleicht raffen wir uns dann bald auf, um – wie Georges Danton es ausdrückte – den „Tempel der Freiheit“ auszuschmücken. Aber vorher werden wir ihn stabilisieren müssen. Er wackelt.

Michael Feindler 2014


Passende Literaturempfehlungen:

Crouch, Colin: Postdemokratie, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008
Crouch, Colin: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2011
Harvey, David: Kleine Geschichte des Neoliberalismus, Rotpunktverlag, Zürich 2007
Nordmann, J./Hirte, K./Ötsch, W. O. (Hrg.): Demokratie! Welche Demokratie?, Kritische Studien zu Markt und Gesellschaft (Band 5), Metropolis-Verlag, Marburg 2012
Schirrmacher, Frank: Ego – Das Spiel des Lebens, Karl Blessing Verlag, München 2013

Vergesst die Rankings!

Seit 2004 legt das „Institut der deutschen Wirtschaft Köln“ (IW) jährlich den sogenannten „Bildungsmonitor“ vor, der – laut eigener Darstellung – die „Leistungsfähigkeit“ der Bildungssysteme aller 16 Bundesländer miteinander vergleichen soll. Der aktuelle „Bildungsmonitor“ wurde vergangene Woche in Berlin vorgestellt und ist nach Ansicht von Michael Feindler vor allem: überflüssig und sogar schädlich für die Bildung.

Im zeitlichen Grenzbereich zwischen Sommerloch und Wiederaufnahme der politischen Geschäfte schafft der Bildungsmonitor regelmäßig den Sprung in die Schlagzeilen. So auch in diesem Jahr: „Sachsen ist Bildungssieger“ (identischer Wortlaut auf Spiegel Online und Sueddeutsche.de), „Ostdeutsche Länder haben die Nase vorn“ (Focus), „Bayern schafft den dritten Platz“ (Bayerischer Rundfunk). Die Ranking-Tabelle wird abgedruckt, kommentiert und bewertet. Meist passiert das überraschend unkritisch und viele Artikel erwecken den Eindruck, hier habe eine wissenschaftliche Studie unter objektiven Bedingungen das beste Bildungssystem innerhalb Deutschlands bestimmt.

Die Studie mit Vorsicht genießen

Doch beim Bildungsmonitor ist Vorsicht geboten. Schließlich wurde die IW-Studie auch dieses Mal wieder von der „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM) in Auftrag gegeben. Und wie von einem arbeitgeberfinanzierten Think Tank erwartet werden kann, konzentriert sich der „Bildungsmonitor“ allein auf die ökonomischen Aspekte von Bildung. Es geht um Fachkräftesicherung, Wirtschaftswachstum und Investitionen in Humankapital. Daraus machen die Autor_innen im Übrigen keinen Hehl. Auf der Website zum Bildungsmonitor wird der Ansatz damit begründet, dass Bildung von der Gesellschaft bezahlt wird und diese daher auch einen Anspruch darauf hat, vom Ergebnis zu profitieren: „Das Bildungssystem muss die Menschen für die zukünftig benötigten Jobs bestmöglich fit machen, so dass die Volkswirtschaft und damit der gesellschaftliche Wohlstand weiter wachsen können.“

Der Leiter der Studie, Axel Plünnecke, räumt ein, der Begriff Bildung umfasse selbstverständlich mehr als die ökonomische Seite. Bildung sei mehr als PISA – Stichwort Humboldt. Aber Plünnecke ist überzeugt, dass sich der Bildungsmonitor mit grundlegenden Indikatoren befasst, die eine umfassendere Bildung überhaupt erst ermöglichen. Wer die Studie liest, wird geneigt sein, Plünnecke zuzustimmen. Selbst die schärfsten Kritiker_innen werden nicht von der Hand weisen können, dass Indikatoren wie die Schüler_innen-Lehrer_innen-Relation, die Bereitstellung zusätzlicher Betreuungsangebote oder der Anteil der Bildungsausgaben am Gesamthaushalt eine wichtige Rolle spielen, wenn Fortschritte in Kindergärten, Schulen und Hochschulen erzielt werden sollen. Ebenso wenig möchte man der Aussage von Hubertus Pellengar, dem Geschäftsführer der INSM, widersprechen, wenn er sagt: „Es muss die oberste Priorität unseres Bildungssystems sein, alle teilhaben zu lassen.“ Andererseits schleicht sich Unbehagen ein, wenn in solchen Zusammenhängen auch Wörter wie „Inputeffizienz“ und „Zeiteffizienz“ fallen, so als sei die Effizienz einer Ausbildung dasselbe wie deren Qualität. Schon allein das macht das Gesamtkonzept unsympathisch.

Verbessert mehr Geld automatisch Bildung?

Zugegeben: Es fällt nicht schwer, den Bildungsmonitor zu kritisieren. Die Studie lässt sich ohne Probleme in der Luft zerpflücken. Die Absicht dahinter ist fragwürdig, der Titel irreführend (es geht letztendlich um „Fachkräftesicherung“, weniger um „Bildung“ selbst) und von wissenschaftlichen Standards sollten wir gar nicht erst anfangen zu reden. Beispielsweise thematisiert der Bildungsmonitor nicht die Wechselwirkung zwischen der Haushaltslage in einem Bundesland und dem Zustand des dazugehörigen Bildungssystems. Das Prinzip von Ursache und Wirkung wird nur in eine Richtung gedacht: Bessere/schlechtere Bildung (bzw. Fachkräftesicherung) sorgt für bessere/schlechtere Finanzen. Dass die Finanzsituation auch einen erheblichen Einfluss auf die Bildungsstandards haben könnte, legt schon die Tatsache nahe, dass das „Pro-Kopf-Verschuldungs-Ranking“ der Länder mit dem „Bildungsmonitor-Ranking“ beinahe deckungsgleich ist.

Vergesst die Rankings!

Eine ausführliche und lesenswerte Kritik der Studie mit weiterführenden Verlinkungen ist hier zu finden. Ich habe daher nicht vor, die Kritik an dieser Stelle zu wiederholen. Ich rege stattdessen an, dass wir den Bildungsmonitor – wie auch alle anderen Rankings, die im Bildungszusammenhang veröffentlicht werden – künftig mit Ignoranz strafen sollten. Das ist dafür das einzig angebrachte Maß an Aufmerksamkeit. Denn sie beruhen auf dem grundsätzlichen Denkfehler, Bildung einer Wettbewerbslogik zu unterwerfen. Das kann bekanntlich nicht funktionieren. Schon allein deshalb nicht, weil die strukturellen Ausgangsbedingungen der unterschiedlichen Städte, Regionen, Bundesländer oder Länder in den Rankings unter den Tisch fallen und somit Äpfel mit Kartoffeln verglichen werden. Zudem fordert jedes Ranking eine vorherige Herstellung von Messbarkeit (Quantifizierung) der Indikatoren, um überhaupt eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen.[1] Dass qualitative Vergleiche, die gerade im Bildungsbereich aussagekräftiger wären, dabei zu kurz kommen, versteht sich von selbst.

Dieser Vorwurf ist nicht neu. Aber er bleibt aktuell, wie der Bildungsmonitor 2014 eindrucksvoll belegt. Dass diese Studie für die Verbesserung der Bildung in Deutschland eigentlich überflüssig ist, gibt auch der Leiter Axel Plünnecke indirekt zu, wenn er meint, „vom Messen allein [werde] die Sau nicht fett“ und selbstverständlich müsse man im Anschluss an die Studienergebnisse noch einmal genauer vor Ort schauen, welche pädagogischen und inhaltlichen Konzepte zu Bildungserfolgen beitragen würden. Damit stellt sich jedoch die Frage, warum seit einem Jahrzehnt jährlich aufs Neue Zeit und Arbeit darauf verwendet wird, die Bundesländer einem Leistungscheck zu unterziehen und einen Berg an statistischen Daten auszuwerten, statt endlich weiter in die Tiefe zu gehen. Es bringt nichts, auch diesmal wieder hervorzuheben, es gebe „in der deutschen Bildungslandschaft verschiedene Leuchttürme“, wenn die Türme selbst nicht hinreichend beleuchtet werden. Warum bekommen wir ständig weitgehend inhaltsleere Rankings zu lesen, aber so selten ausführliche Analysen darüber, welche Methoden für bessere Lernbedingungen in so genannten „Brennpunktschulen“ sorgen? Wieso ist es anscheinend wichtiger, auf welchem Rankingplatz eine Region gelandet ist, als etwas über die grundsätzlichen strukturellen Probleme zu erfahren und diese anzugehen?

Rankings sind schädlich für Verbesserungen im Bildungssystem

Die Probleme sind doch längst bekannt, sie müssen nicht einmal mehr identifiziert werden. Der nächste konsequente Schritt wären konkrete Lösungsvorschläge. Zudem ist es fatal, dass der Wettbewerbsgedanke suggeriert, die „Leuchttürme“ könnten sich damit brüsten, als Gewinner aus der ganzen Sache hervorzugehen. Denn abgesehen davon, dass man sich über die geltenden Bewertungskriterien streiten kann, dürfte der Gedanke „Wir sind besser als die anderen“ in einer Bildungsdebatte gar nicht im Vordergrund stehen. Vielmehr müsste die Idealvorstellung einer guten Bildung oberste Priorität haben. Es geht dabei um nicht weniger als eine Utopie von Bildung. Daran muss sich jede Schule, jede Ausbildungsstätte messen lassen. Dann läuft auch niemand Gefahr, in politische Selbstüberschätzung zu verfallen und anzunehmen, es laufe ja ganz gut (zumindest im Vergleich zur Konkurrenz). Und um sich diesem Ideal annähern zu können, helfen keine Rankings. Sie sind dafür sogar schädlich. Wichtiger als ein Gegeneinander ist ein Miteinander aller Beteiligten im Bildungssystem. Ein gutes Konzept für eine gelingende Bildung umzusetzen bringt nämlich keinen Freischein mit sich, sich als Gewinner hervorzutun, stattdessen zieht es eine große Verantwortung nach sich: die Verantwortung, das Wissen darüber, wie Bildung gelingt, weiterzuvermitteln und somit anderen die Chance zu geben, an dem Erfolg teilzuhaben. Dazu braucht es mehr Berichte über erfolgversprechende Ideen und Konzepte sowie eine stärkere Vernetzung und Kooperation zwischen sämtlichen Bildungseinrichtungen in Deutschland (langfristig bestenfalls weltweit). Rankings lenken nur davon ab. Wenn wir sie schon nicht abschaffen, so können wir wenigstens versuchen sie in Zukunft zu ignorieren, um uns auf die wirklich wichtigen Baustellen im Bildungssystem zu konzentrieren. Denn unterm Strich sind all diese Rankings – so ungern die Macher_innen und Verfechter_innen der Studien das auch hören – extrem ineffizient.

Michael Feindler 2014


[1] Vergleich die Arbeiten von Heintz dazu: Heintz, B. (2010) Numerische Differenz. Überlegungen zu einer Soziologie des (quantitativen) Vergleichs. Zeitschrift für Soziologie 39 (3), 162–181.

Die Verratenen. Eine Anklage in drei Thesen

„Studenten haben in jedem Jahrzehnt einmal gestreikt“, sagte die Frau und lächelte übertrieben breit in die Fernsehkameras. Sie sprach es so aus, als gewöhne man sich daran. So als redete sie von lästigen Eintagsfliegen, die summend um die Köpfe kreisten, allen auf die Nerven gingen, doch glücklicherweise in absehbarer Zeit den sicheren Tod finden würden.
Wie selbstverständlich gingen ihr die Worte von den Lippen. Sie dachte sich anscheinend nicht viel dabei, überspielte es mit ihrer gekünstelten Freundlichkeit, wie sie es immer tat. Doch für jeden, der sich davon nicht in die Irre führen ließ, waren diese Sätze demaskierend. Gesprochen wurden sie Ende November 2009 von Annette Schavan, der amtierenden Bundesbildungsministerin. Die Worte legten die Überheblichkeit und Ignoranz offen, mit der deutsche Politiker der heutigen Jugend entgegentreten. Seit Jahren können wir es beobachten: Junge Menschen werden in unserem Land nicht ernst genommen – selbst wenn der Versuch unternommen wird, in Form von Protesten auf bildungspolitische Fehlentwicklungen aufmerksam zu machen. Bevor sich Ideen und Kreativität entfalten können, werden sie im Keim erstickt. Wirkliche Persönlichkeiten werden immer seltener, weil es wichtiger ist zu funktionieren als selbstständig zu denken. Menschen verlieren ihre Menschlichkeit, werden stattdessen zu Kunden, Dienstanbietern oder schlimmstenfalls selbst zur Ware. Die Jugend scheint größtenteils bereits kapituliert zu haben. Sie hat sich mit den neuen Umständen abgefunden und passt sich fleißig an. Mit Schrecken können wir feststellen, wie diese Entwicklung kontinuierlich voranschreitet. Wir erleben in Deutschland gerade eine Erziehung zur Konformität, was letztendlich nichts anderes bedeutet als eine Erziehung zur Unmündigkeit. Was wir durch die Aufklärung einst dazugewonnen haben, verlieren wir nun wieder.

Dieser Artikel ist eine Anklage. Die Anklage einer verratenen Generation, von der verlangt wird, dass sie sich stillschweigend in ein bestehendes System integriert, statt innovativ über eigene Pläne und Ziele nachzudenken. Einer Generation, die bei einem Fortschreiten der derzeitigen Entwicklungen künftig nicht in der Lage sein wird, soziale und politische Verantwortung in diesem Land zu übernehmen.
Gleichzeitig ist dieser Artikel ein Aufschrei. Der verzweifelte Aufschrei, der endlich die längst überfällige Grundsatzdebatte anstoßen soll, was wir eigentlich unter dem Begriff „Bildung“ in Deutschland verstehen. Die Kritik an den derzeitigen Verhältnissen darf dabei keinesfalls auf die Kritik am Studiensystem (Bachelor und Master) beschränkt bleiben, wie das nur allzu häufig in der Vergangenheit geschehen ist. Verlässt man nämlich das oberflächliche Pflaster der allgemein bekannten Bildungsdiskussionen und taucht tiefer in die Zustände ein, so ist es dort sehr, sehr finster.

Es mag sein, dass das alles im ersten Moment als schwarzmalerische Behauptung abgetan wird. Beklagen kann sich schließlich jeder. Doch ich weiß, wovon ich spreche, weil ich selbst Teil dieser betroffenen Generation bin. Als Ausgangspunkt für weitere Diskussionen möchte ich drei Thesen ausführen. Jede davon ist eine Teilantwort auf die Frage, die ein Mensch stellt, der sich für den Erfolg von Bildungspolitik interessiert: Was haben wir – die junge Generation – eigentlich gelernt?

These 1: Wir haben gelernt, wie man beschleunigt, aber nicht, wie man bremst.

Spätestens seit den ersten miserablen PISA-Ergebnissen vor neun Jahren, verfolgt die deutsche Bildungspolitik ein höchst fragwürdiges Konzept, das langfristig angeblich zum Erfolg führen soll. Dabei geht es nicht etwa darum, dass man verstärkt auf individuelle Förderung setzt, mehr Lehrpersonal einstellt und die Größe der Lerngruppen verkleinert. Stattdessen scheint es darum zu gehen, den Druck auf Schüler und Studenten so lange zu erhöhen, bis diese gezwungen sind, aus eigener Kraft besser werden. Passende Mittel dazu sind eine erhöhte Prüfungsdichte, sowie eine faktische Verkürzung der Schul- und Studienzeit. Wie wenig solch ein Druck als Heilmittel taugt, weiß jeder, der erkannt hat, dass sich aus einer Orange nur bedingt mehr Saft herauspressen lässt, wenn man sie von außen stärker zusammendrückt. Was fehlt, ist der zusätzliche Saft und – um weiter beim Obstvergleich zu bleiben – eine längere Reifezeit, in der sich mehr Flüssigkeit im Fruchtfleisch ansammeln kann. Zudem steckt hinter der Überlegung, durch Druckausübung erreiche man mehr, ein stark eingeschränkter Bildungsbegriff. Demnach wäre Bildung das, was die Insassen einer Bildungsanstalt eingetrichtert bzw. aufgedrückt bekommen. Außer Acht gelassen wird in diesem Zusammenhang die reflexive Seite des Bildungsbegriffs, die davon ausgeht, dass ein solcher Prozess im Laufe der Persönlichkeitsentfaltung nicht nur von außen nach innen, sondern auch umgekehrt wirkt: Bildung wird auf diese Weise sowohl zu einem Aufnahme- als auch zu einem Weiterentwicklungsprozess. Was für weitreichende Folgen das hat, werde ich in der dritten These genauer darlegen.
Bleiben wir aber zunächst bei der Schnelligkeit, der man kaum entrinnt, wenn man als Schüler oder Student in das Bildungssystem einsteigt und nicht auf der Strecke bleiben will. Schon Zehnjährige bekommen den Druck einer verkürzten Schulzeit zu spüren, verzichten auf Freizeitbeschäftigungen fernab vom Schreibtisch und haben im Schnitt mehr Unterrichtsstunden pro Tag als Gleichaltrige vor zehn Jahren. Wenn alles glatt läuft, hat der Nachwuchs mit der erreichten Volljährigkeit das Abitur in der Tasche, begibt sich an eine Hochschule, schreibt sich für ein Fach seiner Wahl ein und macht nebenher Praktika. Schick wäre daneben selbstverständlich ein Auslandsaufenthalt. Hält er sich dann an die Regelstudienzeit (wer es in der vorgegebenen Zeit nicht schafft, bekommt leider die BAföG-Unterstützung gestrichen), so hat er im zarten Alter von 21 Jahren mit dem Bachelor bereits einen ersten berufsqualifizierenden Abschluss. Vielleicht hängt er noch zwei Jahre für einen Master dran, vielleicht lässt er es aber auch. Theoretisch kann er jetzt anfangen zu arbeiten. Nach Wunsch der Politik soll Letzteres in ein paar Jahren gängige Praxis sein, sobald von den Universitäten keine Diplomstudenten mehr nachrücken und die deutschen Unternehmen gezwungen sind, die momentan eher skeptisch betrachteten Bachelor-Absolventen einzustellen – aus Mangel an Alternativen. Von der Geburt bis zum Arbeitsmarkt vergeht die Zeit immer schneller: Der Kampf gegen unliebsame Langzeitstudenten trägt erste Früchte, ebenso wird durch straffere Studienstrukturen und -bedingungen die Zahl der Studienabbrecher weiter sinken. Vorbei die Zeiten, in denen der eine oder andere möglicherweise nach Lust und Laune drauf los studiert, Fächer ausprobiert und nebenbei andere Seiten des Lebens genossen hat. Im Mittelpunkt eines Studiums steht längst nicht mehr die Bildung eines Menschen, sondern sein Marktwert, den er mit Hilfe seiner Leistungen erhöhen kann. Die Reflexion über die Entwicklung der Persönlichkeit bleibt dabei zwangsläufig auf der Strecke. Angestachelt durch gesteigertes Tempo und Druck von vielen Seiten ihres Umfeldes, bleibt den Insassen der Bildungsanstalten kaum eine andere Möglichkeit als sich auf das eine vorgegebene Ziel zu konzentrieren: die eigene Verwertbarkeit auf dem Arbeitsmarkt, auf den sie schnellstmöglich strömen sollen. Dazu genügt es ihnen nicht gut zu sein. Sie wollen besser sein.

These 2: Wir glauben nur gewinnen zu können, wenn die anderen verlieren.

Es ist unbestritten, dass wir in einer Leistungsgesellschaft leben. Wir definieren uns über das, was wir schaffen; wir sind, was wir leisten. Vielen Menschen fällt es nicht schwer, in erster Linie die positiven Seiten daran zu sehen. Ist es denn nicht von Vorteil, wenn jeder dazu angespornt wird, seinen Beitrag zum gesellschaftlichen Zusammenleben beizusteuern? Haben wir letztlich nicht all diesen motivierten Bürgern – mit ihrem Drang nach vorn zu kommen – den Fortschritt zu verdanken? Skepsis ist spätestens an dem Punkt angebracht, wenn der Begriff der Leistungsgesellschaft wichtiger wird als jener der Solidargemeinschaft; wenn Leistungsträger und Minderleister unterschieden werden; wenn von Anfang an nicht zusammen, sondern gegeneinander gearbeitet wird und feststeht, dass es irgendwann in der Einteilung von Gewinnern und Verlierern endet. Von eben diesen Überlegungen jedoch ist das deutsche Bildungssystem durchdrungen. Es sieht nicht vor, jungen Menschen beizubringen, wie sie gemeinsam etwas Großes auf die Beine stellen können. Stattdessen zeigt es ihnen immer wieder auf, dass sie sich durchsetzen müssen – gegen Klassenkameraden, Kommilitonen, Praktikumsbewerber und Arbeitnehmer. Konkurrenz ist die Grundlage des Systems und drängt Neugier, Interesse und Freude an Inhalten in den Hintergrund. Überhaupt wird die inhaltliche Ebene immer stärker ausgeklammert, da diese eine Hinwendung zur Qualität, nicht aber zur Quantität verlangen würde. Quantität aber ist unverzichtbar, will man den Konkurrenzdruck aufrecht erhalten und Menschen miteinander vergleichen. Es wird wichtiger, wie viel jemand leistet, als darauf zu achten, was das Gelernte für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutet. Nur so lässt sich erklären, dass es schon Bildungseinrichtungen für Dreijährige gibt, die Unterricht in Naturwissenschaften und Fremdsprachen erhalten. Eltern, die befürchten, ihr Kind könnte in ein paar Jahren im gnadenlosen Räderwerk der Leistungsgesellschaft auf der Strecke bleiben, zahlen bereitwillig hohe Geldbeträge, um ihren Jüngsten einen Bildungsvorsprung zu ermöglichen. Irgendwann sollen sie schließlich auf der Gewinnerseite stehen, indem sie dann mehr wissen als ihre Gleichaltrigen – zumindest auf dem Papier. Der Wert einer freien und glücklichen Kindheit außerhalb der Schule lässt sich ja leider nicht in Zahlen messen. Daher darf es einen auch nicht verwundern, wenn sich bei grundschulinternen Abstimmungen in Berlin die Eltern oft für die Vergabe von Zeugnisnoten aussprechen (obwohl die Berliner Gesetzeslage das nicht vorschreibt). Die frühzeitige Einordnung der Leistungen anhand von vergleichbaren Werten ist ausdrücklich erwünscht, weil es in Anbetracht der gesellschaftlichen Situation als überlebensnotwendig angesehen wird. Das mag sogar zutreffen, führt jedoch zu einer ständigen Reproduktion des Konkurrenzgedankens und verschlimmert nur die Ausgangslage für die Betroffenen im Bildungssystem. Das Solidaritätsprinzip geht daran endgültig zu Grunde. Die Unterteilung in „besser“ und „schlechter“ ist längst in den Köpfen verankert, wird von der Politik regelmäßig propagiert und verstärkt, und hat in erster Linie eine ausgrenzende Wirkung. Die Auswahlkriterien isolieren statt zu integrieren. Seit ein paar Jahren ist auch der Begriff der Elite wieder salonfähig, was nichts anderes bedeutet, als dass die Grenzen noch schärfer gezogen werden sollen. Dabei wird völlig außer Acht gelassen, dass gerade Werte wie Verantwortungsbewusstsein, Innovation und zielgerichtetes Handeln – wie sie einer neuen Elite zugeschrieben bzw. angedichtet werden – nicht auf einen begrenzten Personenkreis beschränkt bleiben dürfen, sondern eigentlich die Grundlage unserer Gesellschaft und folgerichtig des gesamten Bildungssystems bilden sollten. Davon abgesehen, kann es erst gar nicht gelingen, einer abgespaltenen Gruppe das zu vermitteln, weil eine solche Abspaltung bereits eine Denkweise voraussetzt, in der Verantwortungsbewusstsein und der Blick für andere Teile der Gesellschaft weniger wichtig sind als das eigene Vorankommen. Der Irrglaube, ein Mensch könnte schneller laufen, wenn er nur das kräftigere seiner beiden Beine weiter trainiert und das langsamere amputiert, ist anscheinend weit verbreitet. Das Ergebnis ist ein erkranktes System, das seine Fehler auf allen Ebenen wiederholt. (Zyniker meinen, das sei wenigstens konsequent.) Begeben wir uns an die Universitäten, stoßen wir beispielsweise auch bei der Auswahl des Lehrpersonals auf rein quantitativ messbare Kriterien. Nicht nur Studenten sammeln inzwischen Punktzahlen in ihrem Bachelor-Studiengang – nein, die Professoren machen es ebenso und können mit jeder wissenschaftlichen Veröffentlichung den Stand eines persönlichen Punktekontos erhöhen. Das wiederum verbessert die Chancen, später eine der raren Professorenstellen zu ergattern. Die Anzahl der zu vergebenen Punkte richtet sich zu keinem Zeitpunkt nach der Innovation der Forschungsprojekte und fördert somit eine ungerechtfertigte, unkreative Publikationswut – normalerweise in englischer Sprache, weil es für deutsche Arbeiten kaum Punkte gibt. (Das ist im Übrigen keine satirische Überspitzung, sondern bittere Realität.) Wer mehr veröffentlicht hat als alle anderen, setzt sich am Ende durch. Der vielleicht einzig vernünftige Gedanke des Konkurrenzprinzips – dass sich letztlich die beste Idee durchsetzen soll – wird auf diese Weise ad absurdum geführt, weil es nur noch bedingt um die Qualität von Forschungsergebnissen geht. Daraus folgt ein weiteres Problem: Die Wissenschaft büßt ihre Freiheit ein. Wenn nämlich jemand, der forscht, zuerst darauf schaut, ob und wie ihm ein Projekt für die eigene Karriere nützt, trifft er seine Entscheidungen nicht mehr nach eigenen Interessen bzw. der empfundenen Dringlichkeit, sondern nach dem Ermessen derjenigen, die ihm einen Karriereaufstieg erst ermöglichen. Logischerweise handelt es sich dabei ausnahmslos um die Institutionen des Landes, die an den Geldhähnen sitzen. Wer heutzutage forscht, lernt rasch, welche Forschungsprojekte die besten Chancen haben, vom Staat (oder auch von der Wirtschaft) finanziert zu werden. Somit entwickelt sich in der Forschung ein subtil gesteuerter Mainstream, an den sich jeder anpasst, der auf die Gelder angewiesen ist. Eine ganze Menge kreativer Ideen ist höchstwahrscheinlich schon auf dem Weg ihrer Entstehung verendet, ohne jemals niedergeschrieben worden zu sein, weil zu befürchten war, die nötigen finanziellen Mittel würden nicht genehmigt. Wenn aber Menschen ihre Offenheit und Neugierde auf Kosten nicht eigenständig festgelegter Kriterien einschränken, wenn sie sich an eine Skala anpassen, auf der abzulesen ist, ob sie zu den Gewinnern oder zu den Verlieren der Gesellschaft gehören – inwiefern können wir es da noch wagen, die Worte Bildung und Freiheit in einem Atemzug nennen?

These 3: Wir wissen, wer wir sein sollen, aber nicht, wer wir sind.

Wer über Bildungsbegriffe spricht, kommt früher oder später auf das humboldtsche Ideal zu sprechen. Demnach wäre Bildung „die Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“. Das klingt schön, hat mit der Realität aber so viel zu tun wie eine Milchkuh mit einer Seekuh: Der Grundbegriff, von dem man ausgeht, ist derselbe, das Umfeld jedoch ein völlig anderes – und das bestimmt nun mal den Inhalt. Persönliche Entfaltung im deutschen Bildungssystem ist nur innerhalb der oben erwähnten Grenzen möglich. Zu oft hat das zur Folge, dass die Insassen der Bildungsanstalten den – auf den ersten Blick – bequemsten Weg einschlagen: Statt sich zu entfalten, lassen sie sich lieber zusammenfalten. Wo bleibt aber der Mensch, wo bleiben seine individuellen Fähigkeiten, wenn er meint, er müsse sich festen, vorgegebenen Richtungsanweisungen fügen? Kann es die Aufgabe eines aufgeklärten Bildungssystems sein, Menschen in Formen zu pressen und ihnen einen Stempel aufzudrücken, der sie lebenslänglich kennzeichnet? Oder sollte es nicht viel eher Aufgabe der Bildung sein, jungen Menschen das Handwerkszeug mitzugeben, das es ihnen ermöglicht, die richtigen Formen für die eigenen Veranlagungen zu finden und letztlich selbst der Umwelt einen Stempel aufzudrücken? Damit wären wir – wie in der ersten These bereits angeschnitten – bei der reflexiven Verwendung des Bildungsbegriffs angelangt. Hinter dieser Auslegung verbirgt sich ein Gedanke, der mit der Aufklärung eigentlich selbstverständlich geworden sein sollte. Gehen wir nämlich davon aus, dass es in einer Demokratie die Aufgabe des Bildungssystems ist, mündige Bürger heranzuziehen, so genügt es nicht, Inhalte in Form von Wissen und Wertevorstellungen vorzugeben und Menschen zu veranlassen, diese zu schlucken. Stattdessen muss den Menschen eine weitaus aktivere Rolle zufallen; denn Unmündigkeit resultiert aus Passivität. Erst wenn der Einzelne das, was an Bildungsinhalten vermittelt wird, im Reflexionsprozess weiterdenkt und auf diese Weise eine stabile Persönlichkeit aufbaut, kann das hoch angesetzte Ziel – die Erziehung zur Mündigkeit – erreicht werden. Das klingt jetzt wahrscheinlich zu abstrakt, deshalb werde ich einen griffigeren Vergleich anführen: Nehmen wir einen jungen Menschen, der eine Reihe von Fotos gezeigt bekommt. Auf jedem davon ist das Idealbild einer Person zu sehen, von der es jeweils heißt, es sei erstrebenswert, ihr nachzueifern. Der junge Mensch nimmt sich den Rat zu Herzen und arbeitet in den kommenden Monaten und Jahren daran, das zu erreichen, was er auf dem Foto sah. Seine Hauptmotivation ist dabei die Angst, er könnte am Leben scheitern, wenn er sich nicht nach den vorgegebenen Bildern richtete. Zumindest suggeriert ihm das sein Umfeld. Prinzipiell könnten die angeblichen Idealbilder eine sinnvolle Leitlinie darstellen, fehlte dem jungen Menschen nicht ein wichtiges Utensil: ein Spiegel, in dem er sich selbst betrachten kann. Hätte er einen solchen, würde er erkennen, was für Eigenschaften er mitbringt, die er möglicherweise mit den Idealbildern gemeinsam hat, aber eben auch, welche ihn davon unterscheiden – zuletzt würde er sie sogar hinterfragen. Somit könnten ihm die vorgelegten Fotos zwar weiterhin als Orientierung dienen, würden jedoch keine Kopie von ihm abverlangen, da er im wahrsten Sinne des Wortes selbstbewusster mit sich und seiner Umwelt verführe, nachdem er einen Blick in den Spiegel geworfen hätte. Außerdem würde er ohne Spiegel auch an den Versuchen einer Kopie scheitern. Grundmuster übernähme er mit Sicherheit, das wirkte jedoch kaum überzeugend.
Bildung darf sich also nicht auf die Aufnahme und Umsetzung vorgegebener Ideen und Bilder beschränken. Vielmehr muss jedes erlangte Wissen mit dem jeweiligen Status quo einer Persönlichkeit in Verbindung gebracht und reflektiert werden. Nur das gewährleistet die freie Entfaltung eines Menschen; nur so wird sichergestellt, dass ein Mensch irgendwann stabil im Leben steht, sich eigenständig Ziele setzen und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen kann.
Fest steht: Das deutsche Bildungssystem ist nicht darauf ausgerichtet und wendet sich immer mehr vom reflexiven Bildungsverständnis ab. Deutlich wird das nicht zuletzt in den Diskussionen um den Bachelor an den Universitäten. Der neue Bildungsabschluss soll explizit den Kompetenzerwerb über die Wissensvermittlung stellen. Es soll demnach nicht mehr darum gehen, Menschen universell zu bilden bis sie soweit sind, selbst ihren Standpunkt in der Welt und darauf aufbauend ihre weiteren Ziele zu bestimmen. Stattdessen wird der Fokus vom Menschen weg auf den Arbeitsmarkt gelenkt. Für diesen müssen gewisse „Kompetenzen“ erworben werden. Der Unterschied zwischen „Bildung“ und „Ausbildung“ wird in naher Zukunft nur noch an der Schreibweise, nicht mehr am Inhalt festzumachen sein. Nun kann man behaupten, das sei nicht weiter schlimm und die Vorgänge würden doch dafür sorgen, dass vieles im Land reibungsloser verläuft, wenn vorher feststeht, wohin die Kompetenzvermittlung führt, anstatt bloß der diffusen Wissensvermittlung ausgesetzt zu sein. Für den Arbeitsmarkt scheint es in der Tat beinahe egal, ob die Akteure ihre Ziele selbst bestimmen oder ob sie diese vorgegeben bekommen – er wird weiter funktionieren, dank der Reformen vielleicht sogar ein Stück effizienter. Aus Sicht der Gesellschaft ist diese Entwicklung dauerhaft aber nicht tragbar. Sie führt uns geradewegs in ein Desaster.

Das Fazit aus den dargelegten Thesen ist niederschmetternd: Wir können davon ausgehen, dass das Tempo im Bildungsbetrieb immer weiter steigen wird, die Involvierten permanent unter Druck setzt und wir in naher Zukunft einen Kollaps erleben werden, sobald das Motto hinter den Verhältnissen – „Immer schneller, immer höher“ – an seine natürlichen Grenzen stößt. Ein solcher Kollaps wird sich nicht in Totalausfällen äußern, sondern in einem rapiden Abbau des sozialen Zusammenhalts in der Gesellschaft und der endgültigen Fokussierung auf egoistisch motiviertes Handeln, da sich im Alleingang (zumindest einzelner Personengruppen) die Beschleunigung besser steuern lässt. Hinzu kommt eine schärfere Abtrennung der sozialen Schichten – sowohl gedanklich als auch praktisch. Die Unterteilung in Gewinner und Verlierer innerhalb des Bildungssystems ist in vollem Gange, wie auch die aktuellen Vergleiche der Bundesländer wieder belegen. Nach wie vor hängen in Deutschland Bildungsgrad und finanzielle Ausgangssituation eng zusammen und im internationalen Vergleich gehört das bestehende System zu den sozial selektivsten. Das kürzlich verabschiedete Sparpaket der Bundesregierung wird diese Entwicklung voraussichtlich noch begünstigen, zumindest ist zu erwarten, dass es die Grenzziehungen weiter verstärkt.
Zuletzt wird die junge Generation dahin erzogen, diese Verhältnisse als gegeben zu akzeptieren, indem Tempowahn und Vorbereitung auf das einzig nützlich erscheinende Ziel – den Arbeitsmarkt – Reflexionsprozesse und somit eine freie Entfaltung der Persönlichkeit verhindern.
Die Politik hat die Jugend an diejenigen verraten, die kein Interesse daran haben, demokratische und soziale Ideale zu erhalten. An diejenigen, die das Wort Humankapital im gängigen Jargon mit sich führen, die Banken für systemrelevanter halten als die Bildung, die als Lobbyisten die Wirtschaftskraft, nicht aber das Wohl des Volkes im Auge haben.

Vor 20 Jahren schien die Ausgangslage für uns – die junge Generation – ausgesprochen gut: Wir erlebten in Deutschland keinen Krieg, ebenso wenig wie unsere Eltern. Unser Leben war nicht von autoritären Gewalten beeinflusst, wir mussten uns auch nicht von solchen loslösen oder die Verhüllung der Vergangenheit anprangern. Selbst den Kalten Krieg, der die europäische Geschichte über Jahrzehnte geprägt hat, zählen wir nicht zu unseren unmittelbaren Lebenserfahrungen. Unter diesen Umständen müssten wir eigentlich die friedfertigste, sozialste und demokratischste Jugend sein, die Deutschland jemals hatte. Das Bildungssystem ist zur Zeit jedoch darauf ausgerichtet, eben das zu verhindern. Die Jugend lernt sich anzupassen und nach bestimmten Mustern zu handeln, nicht aber, eine jeweils eigenständige Persönlichkeit zu entwickeln, die einen verantwortungsbewussten, mündigen Menschen ausmacht.

Dieser Artikel ist ein Aufschrei. Ein Aufschrei, weil endlich die grundlegende, längst überfällige Bildungsdebatte angestoßen werden muss, die trotz der Proteste an Schulen und Universitäten im vergangenen Herbst ausblieb. Jugend hat in Deutschland keine Lobby – und das bekommt sie von Seiten der Politik regelmäßig zu spüren. Im Falle der Proteste wurden sie oftmals als Störenfriede wahrgenommen. Menschen, die auf Probleme hinwiesen, wurden selbst als Problem angesehen. Die beschwichtigende Vorgehensweise der Politik ist nicht fürsorglich, sondern ignorant. Das ist verständlich, denn die Erfahrung aus den vergangenen Monaten bestätigt leider, dass sich Proteste in Deutschland nicht ewig halten. Die zuständigen Politiker müssen nur lange genug abwarten, bis die Studentenköpfe benommen vor der Wand zusammensinken, gegen die sie immer wieder angelaufen sind. Dabei widerstrebt es den Grundprinzipien der Demokratie, die Bürger ruhig zu halten und Diskussionen zu unterbinden. Dass jedoch Ruhe im System eines der wichtigsten Ziele der Politik ist, deutete nicht nur die Bildungsministerin Anette Schavan, sondern auch Margret Wintermantel, Vorsitzende der Hochschulrektorenkonferenz, Ende Februar an: Zu Beginn einer Pressekonferenz bat Sie die anwesenden Journalisten, den Bologna-Prozess in den Medien bitte nicht schlecht zu reden. Man arbeite inzwischen an Reformen und aus studentischer Sicht sei es bald nicht mehr gerechtfertigt zu protestieren.
Es ist hart, wenn die Diskussion über das Bildungssystem auf einen Bachelor- und Masterabschluss heruntergebrochen werden. Darum geht es nicht. Letztendlich geht es um die Erhaltung freier, demokratischer Werte, um mehr Verantwortungsbewusstsein in Deutschland. Wir – die junge Generation – müssen deshalb endlich gehört werden, da ohne uns die Zukunft nicht möglich sein wird.
Aus diesem Grund ist der vorliegende Artikel nicht nur ein Aufschrei, sondern ebenso eine Anklage. Eine Anklage, die sich gegen die Herrschenden in diesem Land richtet und ihnen keine Dummheit, sondern etwas weitaus Schlimmeres vorwirft: Sie unterstützen die derzeitigen Entwicklungen, obwohl sie genau wissen, wohin diese führen werden.

Michael Feindler 2010